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Arbeitsunfähigkeit von 20% im IV-Verfahren - Zugang zur Vorleistungspflicht

Veröffentlicht:
08.05.2017
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht

Guten Tag
Ich habe eine Klientin, die einige OP's hinter sich hat und noch immer 100% AUF geschrieben ist. Es ist keine weitere OP vorgesehen. Eine AF im bisherigen Bereich ist wegen den fehlenden Gefühlen in den Beinen und Schmerzen nicht gegeben. Die finanzielle Existenz ist gefährdet (Ehemann bezieht AHV- und PK-Rente). Die EL-Berechnung geht von einem hypothetischen Einkommen der Ehefrau aus. Daher kein Anspruch auf EL.
Empfehlung meinerseits, in Absprache mit der Ärztin, die 20%ige AF zu diskutieren und zu prüfen, damit die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung zum Tragen käme.
Die Klientin wird von einer Rechtsanwältin im Verfahren vertreten (UV-, KTG- und nun IV-Verfahren). Ein Prozess mit der Krankentagversicherung ist im Gang. Gemäss Auskunft der Rechtsanwältin wird das Verfahren sicher noch ein Jahr dauern. Die Rechtsanwältin ist strikte gegen eine Rücksprache mit der Ärztin betreffend Prüfung einer 20%igen AF.

  • Was sind die Überlegungen der Rechtsanwältin?
  • Könnten nicht zwei Arztzeugnisse verwendet werden (20%ige AF beim RAV - in angepasster Tätigkeit und 100%AUF für die IV- und die Krankentaggeldversicherung)
  • gibt es gesetzliche Möglichkeiten, das hypothetische Einkommen zu reduzieren?
    Vielen Dank für eine Rückmeldung und Ihre Bemühungen.
    Freundliche Grüsse
    Heidi Riedo

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Sehr geehrte Frau Riedo
Gerne beantworte ich Ihre Fragen.
a) Bezüglich der Überlegungen der Anwältin in diesem Fall kann ich nur spekulieren. Wahrscheinlich erfragen Sie dies am besten bei dieser selbst. Eventuell verkennt sie die Tatsache, dass eine 20%-Arbeitsfähigkeit in einer leidangepassten Tätigkeit - so wie für die Vermutung der Vermittlungsfähigkeit im Rahmen Vorleistungspflicht im Rahmen der ALV relevant (vgl. Art. 15 AVIG und Art. 15 AVIV) zumindest für den Anspruch auf IV-Leistungen nicht von Bedeutung ist. Hingegen kann unter Umständen und je nach Art und Ausgestaltung des entsprechenden Arztzeugnisses ein Anspruch auf Taggeld gegenüber der Unfallversicherung oder der Krankentaggeldversicherung betroffen sein, zumal dort schon tiefere Eintrittsschwellen für Leistungen bestehen und die entsprechende Arbeitsunfähigkeit sich bei lange dauernder Arbeitsunfähigkeit nicht nur auf den früheren Beruf, sondern auch auf eine angemessen Verweistätigkeit bezieht. (vgl. BGer 4A_246/2015 vom 17.08.2015).
b) Arztzeugnisse sind Urkunden und müssen insoweit wahrhaftig sein. Ein Arzt würde sich also strafbar machen, wenn er bewusst gegenüber unterschiedlichen Versicherungen den selben Gesundheitszustand unterschiedlich bewerten würde. Allerdings ist es möglich und notwendig, unterschiedliche Fragestellungen auch differenziert zu beantworten Zu raten ist auf jeden Fall, die Frage einer allfälligen Restarbeitsfähigkeit korrekt und differenziert zu beantworten (welche Tätigkeiten sind unter welchen Bedingungen wie noch möglich). Damit wird auch das Risiko vermindert, dass eine gegenüber der ALV erklärte Restarbeitsfähigkeit im Verfahren bei der Invalidenversicherung nachteilige Folgen hat.
c) Die Frage nach dem hypothetischen Einkommen bezieht sich, wenn ich sie richtig verstehe, auf die Tätigkeit der Ehefrau des Betroffenen. Um deren Möglichkeiten in concreto zu prüfen, das hypothetische Einkommen zu vermindern, müssten weitere Sachverhaltselemente bekannt sein.
Nach der Rechtsprechung ist unter dem Titel des Verzichtseinkommens (Art. 11 Abs. 1 lit. a und g ELG) auch ein hypothetisches Einkommen der Ehefrau eines EL-Ansprechers anzurechnen, sofern diese auf eine zumutbare Erwerbstätigkeit oder auf deren zumutbare Ausdehnung verzichtet (BGE 117 V 287). Bei der Ermittlung einer allfälligen zumutbaren Erwerbstätigkeit ist der konkrete Einzelfall unter Anwendung familienrechtlicher Grundsätze zu berücksichtigen. Dementsprechend ist auf das Alter, den Gesundheitszustand, die Sprachkenntnisse, die Ausbildung, die bisherige Tätigkeit, die konkrete Arbeitsmarktlage sowie gegebenenfalls auf die Dauer der Abwesenheit vom Berufsleben abzustellen (BGE 134 V 53 E. 4.1). Ferner ist bei der Festlegung eines hypothetischen Einkommens zu berücksichtigen, dass für die Aufnahme und Ausdehnung der Erwerbstätigkeit eine gewisse Anpassungsperiode erforderlich und nach einer langen Abwesenheit vom Berufsleben die volle Integration in den Arbeitsmarkt in einem gewissen Alter nicht mehr möglich ist. Dem wird im Rahmen der Ergänzungsleistung dadurch Rechnung getragen, dass der betreffenden Person allenfalls eine realistische Übergangsfrist für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder Erhöhung des Arbeitspensums zuzugestehen ist, bevor ein hypothetisches Erwerbseinkommen angerechnet wird.
Grundsätzlich gilt, dass ein solches hypothetisches Einkommen nur dann NICHT eingerechnet wird, wenn die Unmöglichkeit dieses zu generieren beweismässig eindeutig feststeht (Beweislast bei den versicherten Personen). Das ist etwa dann der Fall, wenn ein aktuelles und differenziertes Arztzeugnis die entsprechende Arbeitsunfähigkeit hinreichend belegt, oder wenn über lange Zeit lückenlos und genügend einer Stellensuche nachgegangen wird, ohne dass eine solche gefunden werden kann. Dabei ist normalerweise eine Anmeldung beim RAV unabdingbar.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Peter Mösch Payot