Guten Tag
Die Aellix Wohngemeinschaft verfügt über eine Betriebsbewilligung des kantonalen Jugendamts in Bern. Nun hat das kantonale Jugendamt eine Aussenwohngruppe für zwei Kinder/jugendliche bewilligt. Eine Mitarbeiterin der Aellix Wohngemeinschaft wird die Standortleitung übernehmen. Das Haus in welcher sich die Aussenwohngruppe befindet, ist im Besitz der Standortleitung. Sie wird Gesamtbetreuung gemeinsam mit ihrem Mann übernehmen, also rund um die Uhr. Nur in Ausnahmefällen kann sie auf zusätzliche personelle Unterstützung zurückgreifen. Pausen etc. können somit natürlich nicht eingehalten werden. Das KJA hat trotz der fragwürdigen arbeitsrechtlichen Situation eine Bewilligung erteilt. Gemäss KJA handelt es sich um einen juristischen Graubereich. Wer wäre Im Falle eines Unfalls etc. haftbar? Worin liegt die arbeitsrechtliche Unterscheidung zwischen Pflegefamilien und einer Aussenwohngruppe?
Für die Juristin Frau S., von der Fachstelle Kinder stellt sich die Frage zu den Rahmenbedingungen, konkret, ob der Auftrag in Form eines Betreuungsvertrages an die Mitarbeiterin weitergegeben kann oder in Form einer Anstellung. Gemäss den Aussagen des Juristen, welcher spezialisiert auf Arbeitsrecht ist, könnte ein Anstellungsverhältnis heikel sein, da das Arbeitsrecht nicht eingehalten werden kann. Allenfalls könnte dies durch einen Artikel im Arbeitsgesetz, welcher sich auf innerfamiliäre Betriebe bezieht, umgangen werden. Von der Fachstelle Kinder wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass eine Anstellungsverhältnis von Pflegeeltern im Kanton Bern von einigen Juristen angezweifelt wird.
Wie schätzen sie die arbeitsrechtliche Situation ein?
Vielen Dank für ihre Antwort.
Freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Kurt Pärli
Expert*in Arbeitsrecht
Guten Tag,
Gerne nehme ich zu dieser komplexen Frage wie folgt Stellung:
I) Ein paar Angaben zu Aellix und der Aussenwohngruppe und Überlegungen zu den Vertragsverhältnissen
Gemäss Webseite von Aellix ( https://www.aellix.ch/ ) wurde 2003 in Melchnau die Einzelfirma Aellix Wohnfamilie gegründet, welche 2022 zur Aellix Wohngemeinschaft umbenannt wurde. Der Verein habe seinen Sitz in Melchnau. Gemäss Auszug aus dem Handelsregister handelt es sich bei der Aellix um eine Aktiengesellschaft. https://www.moneyhouse.ch/de/company/aellix-wohnfamilie-ag-11642867091 .
Auch der Eintrag in der Liste des kantonalen Jugendamtes https://www.kja.dij.be.ch/de/start/stationaere-leistungen/verzeichnis-kinder--und-jugendeinrichtungen.html deutet darauf hin, dass es sich um eine AG und nicht um einen Verein handelt. Der Hinweis auf der Webseite von Aellix ist irreführend.
Sie erwähnen weiter, dass Aellix AG nun eine Aussengruppe eröffnet hat, die von einer Mitarbeiterin von Aellix AG zusammen mit ihrem Mann geführt wird. Die Liegenschaft, in der sich die Aussengruppe befindet, gehöre dem Paar (wenn ich das richtig verstanden habe).
Sie erwähnen weiter, dass das kantonale Jugendamt die Bewilligung für die Betreibung der Aussenwohngruppe erteilt habe. Mit diesem Aspekt werde ich mich nicht mehr weiter auseinandersetzen (Rechtliche Grundlage siehe hier: https://www.belex.sites.be.ch/app/de/texts_of_law/862.51/versions/1354 )
Sie erwähnen weiter, es sei nicht klar, ob die Aussenwohngruppe von der Aellix AG einen Auftrag erhalte zur Betreuung der Personen (kinder?) oder ob die Aussenwohngruppenmitarbeitenden ebenfalls als Angestellte der Aellix AG zu betrachten sind. Ob zwischen der Aellix AG und der Aussenwohngruppe ein Auftrag oder ein Arbeitsvertrag vorliegt, ist aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse zu beurteilen. Meines Erachtens spricht vieles für das Vorliegen eines Arbeitsvertrages. Ic hgehe davon aus, dass die Aellix AG gegenüber den Mitarbeitenden der Aussenwohngruppe Weisungsbefugnisse hat. Auch verstehe ich den Sachverhalt so, dass die Aellix-AG die Betriebsbewilligung für die Aussenwohngruppe erhalten hat. Die Aellix-AG wird denn wohl auch Vertragspartnerin der einweisenden Stelle bzw. der Eltern sein.
Davon ausgehend, dass ein Arbeitsverhältnis vorliegt, werden nachfolgend arbeitliche Aspekte des Falles dargestellt.
II) Arbeitsrechtliche Überlegungen
1.) Arbeitsvertragsrechtliche Aspekte
Aufgrund Ihrer Schilderungen und anhand meiner eigenen Recherchen gehe ich davon aus, dass in rechtlicher Hinsicht die Aellix AG als Arbeitgeberin zu qualifizieren ist. Das hiesst, dass sowohl das Personal der Aellix AG am Standort Melchnau als auch die beiden Leitenden der Aussenwohngruppe Arbeitnehmende der Aellix AG sind (Arbeitsvertrag nach Art. 319 ff OR). Die Bestimmungen des OR finden Anwendung, soweit die Vertragsparteien nicht zulässigerweise Abweichungen vom OR vereinbart haben. Unzulässig sind Abweichungen, soweit diese relativ oder absolut zwingende OR-Bestimmungen verstossen (siehe Art. 361 und 362 OR) oder wenn gegen öffentliches Recht verstossen wird. Zum öffentlichen Recht gehört auch das Arbeitsgesetz (ArG). Dessen Anwendung auf den vorliegenden Fall wird zu prüfen sein.
Weiter ist zu beachten, dass für bestimmte Tätigkeiten sogenannte Normalarbeitsverträge (NAV) bestehen. Diese enthalten arbeitsrechtlichen Vorschriften, die jedoch durch den Einzelarbeitsvertrag abgeändert werden können. Im Kanton Bern gelten die folgenden Normalarbeitsverträge:
2.) Sozialversicherungsrechtliche Aspekte
Liegen zwischen Aellix AG und dem Personal Arbeitsverträge vor, muss Aellix AG als Arbeitgeberin auch für die Einhaltung der sozialversicherungsrechtlichen Pflichten (AHV/IV/EO-Beiträge, obligatorische Unfallversicherung, Berufliche Vorsorge zsw.) besorgt sein. Das gilt auch für die externen Mitarbeitenden der Aussenwohngruppe.
3.) Anwendbarkeit des Arbeitsgesetzes
3.1 Allgemeines
Das Arbeitsgesetz (ArG) enthält umfangreiche Vorschriften zur Arbeitszeit, Ruhezeit, Nachtarbeit, Pause, Piket usw. sowie zum Gesundheitsschutz. Das ArG ist grundsätzlich auf alle Arbeitsverhältnisse anwendbar. Zu beachten sind jedoch Ausnahmen vom betrieblichen und persönlichen Geltungsbereich.
3.2 Ausnahmen vom betrieblichen Geltungsbereich
Nicht anwendbar sind die ArG-Arbeitszeitvorschriften auf Heime, die zur kantonalen Verwaltung gehörden. Das ist bei Aellix nicht der Fall. Ebenfalls nicht einschlägig ist die Ausnahme für Heime, die als öffentlich-rechtliche Anstalten ohne Rechtspersönlichkeit oder als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisiert sind. Auch dies trifft auf die Aellix AG nicht zu, die Aellix AG ist eine juristische Person des Privatrechts.
Zwischenergebnis: Das ArG ist auf die Aellix AG (inkl. Aussenwohngruppe) anwendbar.
Nun trägt die Verordnung 2 zum ArG (ArGV 2) den Besonderheiten von Heimen Rechnung und sieht verschiedene Erleichterungen vor. Zum Ganzen siehe hier: https://www.seco.admin.ch/dam/seco/de/dokumente/Arbeit/Arbeitsbedingungen/Arbeitsgesetz%20und%20Verordnungen/Wegleitungen/Wegleitungen%202/ArGV2_art16.pdf.download.pdf/ArGV2_art16_de.pdf
3.3 Ausnahmen vom persönlichen Geltungsbereich
In einem nächsten Schritt ist jetzt zu prüfen, ob die die Ausnahmen vom persönlichen Geltungsbereich einschlägig sind.
Nach Art. 3 lit. e ist das ArG nicht auf anwendbar auf u.a. "Fürsorger, Erzieher " . Es ist nun zu prüfen, wer damit gemeint ist.
Die Verordnung 1 zum ArG hält dazu fest, dass unter «Erzieherinnen und Erzieher" Personen zu verstehen sind mit einer anerkannten pädagogischen Fachausbildung oder einer gleichwertigen Aus- und Weiterbildung» (Art. 12 Abs 2 ArGV1). «Fürsorgerinnen und Fürsorger sind Personen mit einer anerkannten Fachausbildung sozial-pädagogischer oder sozial-psychologischer Richtung oder einer gleichwertigen Aus- und Weiterbildung» (Art. 12 Abs. 3 ArGV1). Über eine «gleichwertige Aus- und Weiterbildung» im Sinne dieser beiden Bestimmungen verfügt, wer folgende Bedingungen erfüllt: «Grundausbildung mit einem Diplomabschluss, wie z.B. eine Maturität oder ein eidgenössischer Fähigkeitsausweis gefolgt von einer sechsmonatigen Einführungszeit unter Anleitung einer diplomierten Fachperson. Zudem müssen die hier in Frage stehenden Personen an einer Weiterbildung, die mindestens ein bis drei Tage pro Jahr dauert, teilnehmen. (siehe dazu auch die Informationen des Branchenverbandes der Heime hier: https://insos.ch/assets/Dateien/Merkblatt-Unterstellung-unter-Arbeitsgesetz.pdf ).
Das bedeutet für den vorliegenden Fall: Sofern und soweit die Arbeitnehmenden der Aellix AG die hier aufgeführten Bestimmungen verfüllen, fallen sie nicht unter das Arbeitsgesetz, andernfalls schon.
3.4 Ergänzungen
Zu prüfen ist noch, ob allenfalls die Aussenwohngruppe unter die Ausnahme vom betrieblichen Geltungsbereich "Tätigkeit in privaten Haushalten" (Art. 2 lit. ArG ) fällt. Dies ist aber zu verneinen, Art. 2 Abs. 1 lit. g ArG. Diese Bestimmung sieht vor, dass das das Gesetz auf «private Haushaltungen» nicht anwendbar ist. Nach Lehre und Praxis ist eine «private Haushaltung» ein Betrieb im Sinne des ArG, wenn die Arbeitgeberin Personen für ihre persönlichen Bedürfnisse im Haushalt beschäftigt. Solche Arbeitnehmende im Haushalt sind beispielweise Butler, Haushälter/innen, Köche/innen, Chauffeure/eusen, Hausmädchen oder Hausburschen sowie anderes Personal, das im Haushalt oder Garten mithilft. Nicht jede berufliche Tätigkeit in privaten Haushalten fällt unter die Ausnahmebestimmung gemäss Art. 2 Abs. 1 lit. g ArG . Wenn die Arbeit im privaten Haushalt nicht der Deckung der persönlichen Bedürfnisse des Arbeitgebers dient, sondern zu Erwerbszwecken erfolgt, findet die Ausnahmeregelung von Art. 2 Abs. 1 lit. g ArG keine Anwendung.
Vorliegend ist die Aellix AG Arbeitgeberin. Die Arbeit in der Aussenwohngruppe fällt nicht unter die Ausnahmebestimmung von Art. 2 Abs. 1 lit g ArG.
Ebenfalls nicht einschlägig ist die Ausnahme vom persönlichen Geltungsbereich für Personen in leitender Stellung. Die Leitenden der Aussenwohngruppe erfüllen die hohen Anforderungen, die das ArG und die Verordnung an diese Ausnahme stellen, nicht.
Siehe zum Ganzen weiterführend auch: https://vpod.ch/downloads/sozialbereich/die-anwendung-des-arbeitsgesetzes-in-heimen.pdf
III) Zusammenfassendes Ergebnis
Meines Erachtens besteht zwischen Aellix AG und den Aussenwohngruppenleitenden ein Arbeitsverhältnis.
Das Arbeitsgesetz ist in betrieblicher Hinsicht anwendbar.
Die beiden Leitungspersonen der Aussenwohgruppe sind dann vom persönlichen Anwendungsbereich des ArG ausgenommen, wenn es sich um "Erzieher" oder "Fürsorger" handelt.
Nicht einschlägig sind die Ausnahmen "private Haushalte" und "höhere leitende Tätigkeit.
Soweit meine Überlegungen auf der Grundlage der mir zur Verfügung stehenden Informationen.
Bei Bedarf stehe ich den Involiverten für weitere Auskünfte zur Verfügung (ausserhalb dieses Phorums).
Mit Dank für die Kenntnisnahme und freundlichen Grüssen
Kurt Pärli