Guten Tag
Ich habe eine Patientin bei mir auf der Sozialberatung, die seit 7 1/2 Jahren mit einem Schweizer verheiratet ist. Die Patientin ist Ukrainerin und hat seit ca. zwei Jahren die Aufenthaltsbewilligung C. Die Ehe ist kinderlos. Da die Ehe sehr konfliktgeladen ist und ihr Ehemann zur psychischer Gewalt neigt, möchte sie sich von ihm trennen bzw. scheiden lassen. Ihr Ehemann hat eine eigene Firma. Die Patientin arbeitet bei ihm 20% als Sachbearbeiterin (ohne schriftlichen Arbeitsvertrag!). Sie ist finanziell, leider auch emotional, abhängig von ihrem Ehemann. Sie hat keinen Zugriff auf das Bankkonto vom Ehemann. Ein gemeinsames Haushaltskonto gibt es nicht. Die Patientin ist mittellos und kann sich keinen Anwalt leisten. Sie ist nun in einer psychiatrischen Klinik. Ihr Ehemann zahlt ihr den Lohn seit März 2022 nicht, da sie krankheitsbedingt ausfällt. Normalerweise bekommt sie Fr. 2000.-/ Monat. Sie weiss nicht, wie sie vorgehen soll und hat Angst durch eine Scheidung finanzielle Einbussen zu kassieren. Es besteht ein Ehevertrag (Gütertrennung gemäss Art. 247 ff. ZGB).
Hier meine Fragen:
- Die Patientin würde sich gerne bei einem Anwalt, der Familienrecht praktiziert, beraten lassen. Sie kann aber die Kosten für ein erstes Beratungsgespräch nicht tragen. Muss ihr Ehemann die Kosten übernehmen?
- Unter welchen Umständen muss ihr Ehemann ihr Unterhalt zahlen? Bzgl. Unterhalt ist im Ehevertrag nichts regelt.
- Sie hat Bedenken, dass wenn sie Sozialhilfe beziehen würde, ihre Aufenthaltsbewilligung C zurückgestuft werden kann. Könnte dies der Fall sein? Wenn ja, unter welchen Bedingungen?
- Ihr Ehemann hat Steuerschulden. Die Patientin hat Angst, dass die Schulden bei der Scheidung geteilt werden? Ich gehe allerdings davon aus, dass dies nicht der Fall sein wird. Gemäss Ehevertrag verwaltet jeder Ehegatte sein Vermögen selbst. Bezieht sich das auch auf die Schulden?
Besten Dank!
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Grüezi
Je nach Kanton gibt es Beratungsstellen, wie Frauenzentrale, Ausländerberatung, die kurze Sprechstunden bei Anwälten und Anwältinnen gratis oder zu einem niedrigen Tarif anbieten. Auch viele Gerichte oder Anwaltsverbände bieten unentgeltliche Rechtsauskunft an (siehe die Zusammenstellung der Rechtsauskunft des Schweizerischen Anwaltverbands den https://www.sav-fsa.ch/de/rechtsauskunft). Hier kann sich Ihre Klientin erste Informationen holen.
Auf der Website des Schweizerischen Anwaltverbands https://www.sav-fsa.ch/de/anwaltssuche kann Ihre Klientin nach einer passenden Anwaltsperson, idealerweise im Bereich Ehe- und Familienrecht oder Fachanwalt/Fachanwältin SAV Familienrecht, suchen.
Die Konsultation der ersten Beratungsstunde kann nach Art. 118 Abs. 1 lit. c bereit unter die unentgeltliche Rechtspflege fallen (…die Rechtsbeiständin oder der Rechtsbeistand kann bereits zur Vorbereitung des Prozesses bestellt werden). Wichtig ist, dass die Klientin die Anwaltsperson auf ihre Mittellosigkeit, auch für das Erstgespräch, hinweist und die Finanzierung mit ihr klärt. Die eheliche Beistandspflicht (Art. 159 i.V.m. Art. 163 Abs. 1 ZGB) umfasst auch eine Bevorschussungspflicht der Prozesskosten, d.h. dass ein vom - leistungsfähigen - Ehemann zu leistender Vorschuss der unentgeltlichen Rechtspflege vorgeht.
Die eheliche Unterhaltspflicht ist nicht mit dem Güterrecht zu verwechseln, sie richtet sich nach den Art. 171 ff. ZGB (Eheschutz) und Art. 125 ff. ZGB (nachehelicher Unterhalt). Ob und wie viel Unterhalt die Frau bekommen könnte, das kann nur anhand detaillierter Sachverhaltskenntnisse beantwortet werden. Ob die Ehefrau aus Arbeitsvertrag, was auch ohne schriftlichen Arbeitsvertrag möglich ist, gegenüber ihrem Ehemann eine Forderung hat oder gestützt auf Art. 165 ZGB (Mitarbeit in Beruf oder Gewerbe des Ehegatten), auch das wäre zu klären. Ich empfehle jedenfalls die Prüfung von (vorsorglichen) Eheschutzmassnahmen, damit auch der laufende Unterhalt rasch gesichert werden kann. Mit dieser Massnahme kann sich die Frau „Ruhe verschaffen“ und überlegen, ob und wie sie hinsichtlich einer Scheidung vorzugehen gedenkt.
Nach Art. 63 lit. c. des Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG, kann die Niederlassungsbewilligung widerrufen werden, wenn die Ausländerin oder der Ausländer oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist. Unter „dauerhaft“ ist nicht nur die Vergangenheit zu betrachten, auch die Zukunftsprognose spielt hier eine Rolle. Bei der Beurteilung der Erheblichkeit spielt das Ermessen der Behörden eine grosse Rolle, in der Lehre wird teilweise bei einer Summe ab Fr. 80’000 Erheblichkeit angenommen kann (vgl. Marco Weiss, Der Widerruf von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen, in: Jusletter 24. August 2020).
Grundsätzlich haften die Ehegatten solidarisch für die (ehelichen) Steuern. Bei der güterrechtlichen Auseinandersetzung müssen auch im Güterstand der Gütertrennung die Schulden geregelt werden. Wer die (ehelichen) Steuerschulden zu vielviel Anteil übernehmen soll, darüber haben sich die Parteien zu einigen bzw. hat das Gericht zu entscheiden.
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 19.4.2022
Karin Anderer