Sehr geehrte Damen und Herren
KL ist am 15.06.2020 von Italien in die Schweiz eingereist. Er besitzt den Aufenthaltstitel B EU/EFTA für die ganze Schweiz, berechtigt zur Erwerbstätigkeit, gültig bis 14.06.2025 (ausgestellt am 03.07.2020). Er hat sich per 01.05.2022 für den Bezug von WSH angemeldet. Er ist seit dem 23.07.2021 krankgeschrieben. Er ist zuletzt über ein Temporärbüro angestellt gewesen und arbeitete dort bis am 23.07.2021. KL erhielt per 01.10.2021 vom Arbeitgeber die Kündigung. KL bezog Krankentaggelder von dem Krankentaggeldversicherer des Arbeitgebers, ehe diese per 31.03.2022 eingestellt wurden. KL ist aktuell nach wie vor zu 100% krankgeschrieben.
Im SKOS Merkblatt "Unterstützung von Personen aus dem EU/EFTA-Raum" vom Jahr 2019 ist festgehalten, dass bei unfreiwilliger Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach den ersten zwölf Monaten des Aufenthalts das Aufenthaltsrecht von Inhaber/innen einer Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA innerhalb von sechs Monaten nach Beendigung der Erwerbstätigkeit erlischt. Vorbehalten sind jedoch Fälle, in denen die Erwerbstätigkeit wegen Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit, Unfall oder Invalidität aufgegeben wird (vgl. Art. 61a Abs. 5 AIG). Dieser Vorbehalt würde meines Erachtens auf den von mir erwähnten Fall zutreffen.
Meine Frage lautet jetzt:
Hat der KL nun Anspruch auf ordentliche WSH solange er krankgeschrieben ist und solange sein Ausweis Gültigkeit hat?
Wie sieht die Situation aus wenn er demnächst wieder (teil)arbeitsfähig wird? Bleibt der Anspruch auf ordentliche WSH bestehen und falls ja, wie lange? Ob KL die Rahmenfrist für ALTG-Bezug erfüllt hätte ist unklar.
Oder hat KL solange Anspruch auf ordernliche WSH bis die kantonale Migrationsbehörde die Aufenthaltsbewilligung B widerruft?
Besten Dank im Voraus für Ihre Rückmeldung.
Frage beantwortet am
Anja Loosli
Expert*in Sozialhilferecht
Guten Tag
Vielen Dank für Ihre Frage.
Einleitend möchte ich gerne Folgendes ausführen: Wenn der Klient bzw. Gesuchsteller im heutigen Zeitpunkt nach wie vor über eine B-Bewilligung verfügt, gehe ich davon aus, dass er im Zeitpunkt der Auflösung des Arbeitsvertrags (Oktober 2021) nach wie vor deshalb eine B-Bewilligung als Erwerbstätiger hatte, weil er seit seiner Einreise bis Oktober 2021 entweder durchgehend an derselben Stelle gearbeitet oder nach einem ersten Stellenverlust rasch wieder eine neue Stelle gefunden hat. Es kann dann von einer unfreiwilligen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach den ersten 12 Monaten des Aufenthalts ausgegangen werden (Art. 61a Abs. 4 AIG).
In diesem Fall würde das Aufenthaltsrecht 6 Monate nach Ende des Arbeitsverhältnisses oder 6 Monate nach Ende der Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung weiterbestehen und ein Anspruch auf ordentliche Sozialhilfe bestehen (Art. 61a Abs. 4 AIG). Das Aufenthaltsrecht erlischt nach dieser Zeit ausnahmsweise nicht, wenn das Arbeitsverhältnis infolge vorübergehender Krankheit beendet wurde (Art. 61a Abs. 5 AIG). In diesem Fall besteht weiterhin Anspruch auf ordentliche Sozialhilfe und zwar so lange, bis die Migrationsbehörde die Aufenthaltsbewilligung entzieht, weil sie der Meinung ist, dass die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind oder bis zum Zeitablauf der Bewilligung.
Ob vorliegend noch ein Aufenthaltsrecht gestützt auf Art. 61a Abs. 4 AIG besteht erscheint fraglich, da die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mehr als 6 Monate zurück liegt und ich davon ausgehe, dass auch keine Arbeitslosentaggelder fliessen, weil der Klient 100% arbeitsunfähig ist. Das Arbeitsverhältnis mit dem Klienten wurde aber wohl aufgrund seiner Krankheit/Arbeitsunfähigkeit beendet. Demnach sind die Voraussetzungen von Art. 61a Abs. 5 AIG voraussichtlich erfüllt, das Aufenthaltsrecht bliebe dann bestehen und es bestünde Anspruch auf ordentliche Sozialhilfe, solange die Aufenthaltsbewilligung B nicht zeitlich abgelaufen oder vom Migrationsamt widerrufen wird. Ob die Voraussetzungen von Art. 61a Abs. 5 AIG tatsächlich erfüllt sind und damit die Aufenthaltsbewilligung bestehen bleibt (und somit auch der Anspruch auf ordentliche Sozialhilfe), muss das Migrationsamt entscheiden.
Die Sozialhilfe müsste deshalb – wenn dies nicht bereits erfolgt ist - vorfrageweise das zuständige kantonale Migrationsamt um Prüfung bitten und kann einen definitiven Unterstützungsentscheid erst nach dieser Abklärung treffen. Während der laufenden Abklärung muss der betroffenen Person in einer Notlage aber angemessene Hilfe geleistet werden. Ist nach Ansicht der Sozialhilfe ausreichend belegt, dass die Voraussetzungen von Art. 61a Abs. 5 AIG erfüllt sind, kann bereits ordentliche Sozialhilfe ausbezahlt werden. Ansonsten kann bis zum Bescheid des Migrationsamtes Nothilfe bezahlt und nach einem positiven Entscheid die ordentliche Sozialhilfe nachbezahlt werden.
Als Ergänzung dies: Aufgrund der Schilderung des Sachverhalts habe ich den Eindruck, dass der Klient seine ursprüngliche Stelle verloren und eine befristete Stelle angetreten haben könnte, die dann auf Oktober 2021 vorzeitig gekündigt wurde. In diesem Fall hätte der Klient allenfalls nur noch Anspruch auf eine L-Bewilligung. Dies würde Nothilfe bedeuten, ausser wenn die Voraussetzungen von Art. 61a Abs. 5 AIG erfüllt sind, was vorliegend wohl der Fall ist. Es ist Aufgabe des Migrationsamtes, über die Art der Bewilligung zu entscheiden.
Ich hoffe, Ihnen mit dieser Antwort weiterhelfen zu können.
Freundliche Grüsse
Anja Loosli Brendebach