Guten Tag Herr Mösch
Ich begleite neu eine Klientin (60), welche 2007 von Portugal in die Schweiz eingereist ist. Sie hat ab Einreise in die Schweiz immer die Mindestbeiträge für die AHV/IV bezahlt, hat aber nie in der Schweiz gearbeitet. Im März 2020 wurde durch den Hausarzt eine IV-Anmeldung gemacht. Der RAD prüft zurzeit die medizinischen Unterlagen (Die Klientin hat diverse Einschränkungen im Rücken, eingeschränkte Handfunktion, künstlicher Darmausgang wegen einer Darmkrebserkrankung) und wird anschliessend den Betätigungsvergleich zu Hause machen.
Nun zu meiner Frage. Meine Klientin ist über den Familiennachzug in die Schweiz gekommen. Sie wohnt bei ihrer Tochter und dessen Familie. Die Tochter musste vor der Einreise schriftlich bestätigen, dass sie für sämtliche Auslagen ihrer Mutter aufkommen wird. Angenommen, dass meine Klientin Anspruch auf eine IV-Rente erhält, kann sie dann EL beantragen oder Risiko, ihre Aufenthaltsbewilligung (B) zu gefährden?
Und wie sieht es aus, falls sie keine IV-Rente bekommt (was eher wahrscheinlich ist).- Macht es dann Sinn, die Frühpensionierung mit 62 Jahren anzumelden und EL zu beantragen, im Wissen, dass ihre AHV-Rente sehr gering ausfallen wird und sie keinen Anspruch auf eine PK-Rente hat und somit in jedem Fall auf EL angewiesen wäre?
Besten Dank für die Rückmeldung!
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Frau Nikles
Gerne beantworte ich Ihre Anfrage.
a)Zuerst zur Frage der Anmeldung für EL im Kontext Vorbezut der AHV. Tatsächlich ist es sinnvoll, die AHV im von Ihnen geschilderten Fall vorzubeziehen und dann auch EL zu beantragen. Zumal der AHV-Vorbezug und die damit verbundene Kürzung der AHV-Rente NICHT zu einer Kürzung der EL (über hypothetische Einkommen) führt. (vgl. Art. 15a ELV).
b) Etwas schwieriger ist die Frage nach dem ausländerrechtlichen Konsequenzen eines Bezuges von EL in der von Ihnen besprochenen Situation. Eine genaue Auskunft ist hier nur möglich, wenn die detaillierten Akten konsultiert werden können. Die Antwort ist nämlich abhängig von einer Gesamtbetrachtung unter Einschluss von Kriterien der Integration, der Gründe für die Invalidität , der Verwurzelung und der Zumutbarkeit der Ausreise (was an Familie und Infrastruktur etc. ist im Heimatland vorhanden etc.).
Zwar kann der Bezug von Sozialleistungen oder eben auch von EL ein Grund sein, die B-Bewilligung zu verlieren.Vgl. dazu BGE 135 II 265 E. 5.4
c) Gemäss Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA erhalten Angehörige eines EU-Mitgliedstaats, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, eine Aufenthaltsbewilligung, sofern sie über genügende finanzielle Mittel verfügen sowie eine Krankenversicherung, die sämtliche Risiken abdeckt.
Über genügende finanzielle Mittel im Sinn von Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA verfügt eine Person, wenn sie selbst oder durch Unterstützung anderer Personen ihren Lebensunterhalt finanzieren kann, ohne auf Leistungen der Sozialhilfe oder auf Ergänzungsleistungen angewiesen zu sein (BGE 135 II 265 E. 3.3–7; 142 II 43 E. 5.1).
Die für den Lebensunterhalt notwendigen Kosten bestimmen sich gemäss Art. 16 Abs. 1 VEP nach den Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien).
Wenn jemandsich für den vorzeitigen Bezug einer AHV-Rente und den damit verbundenen Anspruch auf Ergänzungsleistungen anmeldet ist dies in ausländerrechtlicher Hinsicht eine Forsetzung von Sozialhilfe, wenn diese vorab bezogen wurde.
Hat aber jemand zuvor keine Sozialhilfe bezogen, sondern gearbeitet, und danach entstand ein rentenauslösendes Ereignis (Erreichen des Rentenalters oder Erleiden einer Invalidität), das zur Notwendigkeit von Ergänzungsleistungen führt, so ist dies kein Grund für ein Verlust der B-Bewilligung.
d) Die hier vorliegende Konstellation ist nicht ganz eindeutig. Gegen einen Entzug der B-Bewilligung spricht hier aber die Dauer des Aufenthaltes in der Schweiz (mehr als 10 Jahre) und das Alter der Person.
Siehe für weitere Details zu den "Integrationskriterien" bzgl. Verlängerung der Bewilligung: https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/publiservice/weisungen-kreisschreiben/auslaenderbereich/familiennachzug.html
Insb. Ziff. 3.3.1 und Ziff. 8.3.1.5 ff.
Ich rate dazu, in diesem Fall möglichst pro-aktiv auf die Migrationsbehörde zuzugehen. Die Fallsituation zu schildern und eine Auskunft bzgl. der Folgen des Bezuges von EL vorab erhältich zu machen. Auch die Beratung eines auf Ausländerrecht spezialisierten Anwaltsbüros könnte hilfreich sein.
Und dann über die allfällige Anmeldung zu EL zu entscheiden.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot