Ich melde mich wegen einer Klientin, welche am Ehlers-Danlos-Syndrom leidet, einer seltenen genetisch bedingten Bindehaut-Erkrankung. Die Erkrankung schränkt sie in ihrer Lebensqualität stark ein, seit September 2019 ist es sukessive zu einer Verschlechterung gekommen, so dass sie im Oktober 2019 100% AUF wurde. In den folgenden Monaten konnte sie dann das Pensum schrittweise wieder auf 50% erhöhen. Seit April 2020 arbeitet sie nun 50%, eine Erhöhung ist laut ihr und der Fachärztin mittelfristig nicht Thema.
Die IV-Anmeldung wurde gemacht, diese hat in der Zwischenzeit auch Anpassungen am Arbeitsplatz/Homeoffice geprüft und HiMi's gut gesprochen. Auch hat die IV eine Abklärung zu Hause gemacht i.S. Anspruch auf eine HE, die Klientin hat aber einen negativen Entscheid erhalten.
Im November sind die Taggelder ausgeschöpft.
Die Klentin arbeitet in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zu 100%, im eher höhren Lohnsegment. Sie arbeitet seit drei Jahren in der Schweiz für diese Firma, vorher hat sie für die gleiche Firma in Australien gearbeitet. Sie ist Engländerin und besitzt in der Schweiz einen B-Ausweis. Nun zu meinen Fragen.
- Zumindest gemäss den Anspruchsbedingungen gehe ich davon aus, dass meine Klientin Anspruch auf eine IV-Rente hätte (Wohnhaft in der Schweiz, arbeitet in der Schweiz, drei Jahren einbezahlt). Ich gehe weiter davon aus, dass es keine Rolle spielt, dass das "Leiden importiert" ist, da sie EU-Bürgerin ist. Ausserdem sehe ich eine Einbusse im Vergleich ihres validen zum invaliden Einkommen, welche sehr wohl rentenrelevant sein kann. Ist dies korrekt?
- Falls die AUF Ende November nach wie vor 50% beträgt, kann der Arbeitgeber dann eine Vertragsanpassung verlangen? Die Sperrfrist ist abgelaufen. Gilt dann eine dreimonatige Kündigungsfrist?
- Prüft die IV von Amtes wegen, ob ein Anspruch auf eine Rente aus einem anderen Versicherungsland geltend gemacht werden kann (Australien, England) oder muss meine Klientin sich selbst darum kümmern?
Vielen Dank für Ihre Einschätzung!
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Frau Nikles
Gerne beantworte ich Ihre Fragen
1. Zur IV-Rente: Anspruch auf eine ordentliche Rente haben Versicherte, die bei Eintritt der Invalidität während mindestens drei Jahren Beiträge geleistet haben (Art. 36 IVG)
Gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen werden EU- und EFTA-Staatsangehörige gleich behandelt wie Schweizer Bürger. In Bezug auf die Voraussetzung der Mindestbeitragsdauer von 3 Jahren für eine ordentliche Rente werden in einem EU- oder EFTA-Staat erworbene Beitragszeiten mitberücksichtigt.
Falls die Invalidität im Sinne der Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist nach drei Beitragsjahren so ist im vorliegenden Fall auf jeden Fall ein Anspruch gegeben. Ansonsten wären weitere Abklärungen notwendig, könnte aber ein Anspruch wegen des Diskriminierungsverbotes gemäss Art. 4 VO 883/2004 zum FZA bestehen, wenn die Invalidität eintrat nachdem die Person bereits erwerbstätig war.
Zu beachten ist, dass Grossbritanien seit dem 1.1.2021 nicht mehr zur EU gehört. Die zuvor erworbenen Rechte bleiben aber erhalten. Siehe dazu https://www.ahv-iv.ch/p/4.01.d, S.
2. Bezüglich des Arbeitsverhältnisses. Die Frage der konkreten Kündigungsfrist und der Möglichkeiten derAnpassung des Pensums des bestehenden Vertrages liesse sich nur mit Abklärung der konkreten Arbeitsbedingungen (Arbeitsvertrag, Personalreglement, ev. GAV) bestimmen.
Grundsätzlich gilt aber, dass es möglich ist, einen neuen Vertrag mit neuem Pensum anzubieten unter Kündigung des bisherigen Vertrages (unter Einhaltung der Sperrfrist, die hier schon abgelaufen ist) und unter zusätzlicher Berücksichitgung der ordentlichen Kündigungsfrist).
3. Zur Leistung einer Rente aus dem Ausland.
Wer eine Leistung beansprucht, muss einen entsprechenden Antrag stellen. Liegt der Wohnsitz in einem EU- oder EFTA-Staat, kann die Anmeldung für schweizerische AHV-/IV-Leistungen beim Versicherungsträger des Wohnlandes eingereicht werden. Sie wird dann zur Bearbeitung an die zuständigen Versicherungen weitergeleitet.
Bzgl. der Stellung von Ansprüchen gegenüber Australien gibt die entsprechende Broschüre des BSV Auskunft. Informationen sind auch bei der Ausgleichskasse oder direkt beim BSV erhältlich. Siehe: https://www.bsv.admin.ch/bsv/de/home/sozialversicherungen/int/grundlagen-und-abkommen/sozialversicherungsabkommen/informationen-zu-abkommen0.html
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot