Guten Tag
Ich habe eine Minderjährige, die bis 5.2017 in den USA lebte und seither in der Schweiz ist. Sie hat den Schweizer Pass da der neue Ehemann der Kindsmutter sie adoptiert und für sie die Staatsbürgerschaft beantragt hat. Die Minderjährige hat eine starke Lernschwäche, wird aber in einer Kleinklasse (Regelschule) unterrichtet. Sprachliche und kognitive Schwierigkeiten sind ärztlich/schulisch bestätigt und sind gemäss Eltern seit Kleinkingalter bestehend. Die IV-Anmeldung steht an, da eine berufliche Eingliederung ohne Unterstützung der IV nicht möglich sein wird.
Meine Fragen:
- sie hat den Wohnsitz in der Schweiz (Art. 1b IVG i.V.m. Art. 1a Abs. 1 AHVG) seit 5.2017, hatte jedoch die Gesundheitsschaden bereits vor Erlangen der CH-Staatsbürgerschaft und vor Einreise in die CH. Erfüllt sie die Anspruchsvoraussetzungen dennoch?
- Nicht erwerbstätige Minderjährige gelten als invalid, wenn die Beeinträchtigung ihrer körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit voraussichtlich eine ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird. Dies würde ich als erfüllt ansehen. Falls die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind: kann sie dann medizinische Massnahmen zur Erleichterung der Eingliederung bei IV beanspruchen?
- viel wichtiger als die med. Massnahmen sind jedoch die beruflichen Massnahmen. Die Lehrer haben bis im Sommer 2019 angenommen, dass vor allem die Sprache (von Englisch neu Deutsch lernen) ein Problem sei. Erst jetzt wird klar, dass es eine kognitive Problematik besteht. Eigentlich müsste die Minderjährige in eine Sonderschule, aber für das letzte halbe Jahr belässt man sie in der Kleinklasse der Regelschule. D.h. eigentlich müsste sie eine Sonderschule haben, aber sie erhielt es nicht aus organisatosichen Gründen. Kann die Erstmalige berufliche Ausbildung, Deckung der invaliditätsbezogenen Mehrkosten (Art. 16 IVG) bei der IV geltend gemacht werden?
Besten Dank für eine Rückmeldung.
Maya Rohner
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Frau Rohner
1.) Mit Blick auf Massnahmen der Sonderschulung ist zu beachten, dass diese nicht seitens der IV finanziert wird. Allfällige entsprechende Ansprüche sind Sache des kantonalen Bildungsrechts. Auch allfälligen Vorbringen, dass in Ihrem Fall zu Unrecht nicht die angezeigten sonderpädagogischen Settings und Massnahmen gewährt werden, sind gegenüber den zuständigen Schulbehörden vorzubringen oder geltend zu machen.
2.) Die erstmalige berufliche Ausbildung gemäss Art. 16 IVG sieht vor, dass ausbildungsbezogene Mehrkosten übernommen werden können.
Nicht dazu gehört der Aufwand für die Erlangung der schulischen Grundvoraus- setzungen zur Inangriffnahme einer Berufs- oder Anlehre. Allfällige Massnahmen vor der Beendigung der ordentlichen Schulzeit können also nicht unter Art. 16 IVG finanziert werden (vgl. schon ZAK 1982 493, 1977 189; I 77/93).
3.) Somit bleibt aktuell die Frage, ob Ansprüche auf medizinische Massnahmen bestehen. Diese gelten, wie auch berufliche Massnahmen, nach der Systematik des IVG als Eingliederungsmassnahmen.
Entsprechende Leistungen gemäss Art. 12 IVG werden einerseits bei nach der Geburtsgebrechenverordnung bestehenden Liste gewährt für die Leidensbehandlung als solche gewährt. Darüber hinaus nur für Massnahmen, welche mit Blick auf die Eingliederung von Relevanz sind. In erster Linie könnte die Kostenübernahme für Massnahmen chirurgische, physio- und psycho-therapeutischer Art in Frage kommen, welche die Körperbewegung, Sinneswahrnehmung oder Kontaktfähigkeit verbessern (vgl. Art. 2 IVV i.V.m Art. 14 IVG).
Ein Eintritt der Invalidität in dieser Hinsicht besteht im Zeitpunkt, als die medizinische Notwendigkeit der Massnahmen erkennbar wurde. Dazu gehört auch das Entstehen eines relativ stabilen Zustandes (BGE 111 V 113 und 121).
4.) Bzgl. Ihrem Fall ist allerdings, wie Sie richtig darstellen, fraglich, ob für die Übernahme solcher Kosten die versicherungsmässigen Voraussetzungen bestehen.
Hier die wichtigsten Regeln dazu:
a) Grundsätzlich ist notwendig, dass das Kind der Versicherung selbständig unterstellt ist. Das ist bei einem Wohnsitz in der Schweiz der Fall (vgl. Art. 1b IVG i.V.m. Art. 1a Abs. 1 AHVG).
b) Für Eingliederungsmassnahmen besteht für ausländische Staatsangehörige, die das 20. Altersjahr noch nicht vollendet haben, nach Art. 6 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 3 lit. b IVG ein Anspruch auf Leistungen, wenn sie in der Schweiz invalid geboren sind oder bei Eintritt der Invalidität seit mind. einem Jahr oder seit der Geburt ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten haben. (Zusätzlich gibt es einige Sonderfälle, die hier aber nicht von Bedeutung sind, vgl. Art. 9 Abs. 3 lit. b IVG).
Für ausländische Personen, die den 20. Geburtstag noch nicht erreicht haben (wie in ihrem Fall), kann sich die Versicherungsunterstellung darüber hinaus dann ergeben, wenn ein ausländischer Elternteil bei Beginn der Invalidität während eines Jahres Beiträge geleistet hat oder sich ununterbrochen während 10 Jahren in der Schweiz aufgehalten hat.
c) Im hier interessierenden Fall erwarb das Kind durch eine Adoption das Schweizer Bürgerrecht. Damit darf die unter «b» genannte besondere Regel NICHT angewendet werden (BGE 107 V 207). Die Prüfung des Anspruchs hat vielmehr ab dem Zeitpunkt des Erwerbs des Schweizerischen Bürgerrechts nach den für Schweizer Staatsangehörige geltenden Regeln zu erfolgen (vgl. Urteil A. vom 19.9.2006, I 142/04 E.6.3; vgl. dazu Bucher (2011). Eingliederungsrecht, N 73).
d) Pro memoria: Zu beachten sind auch allfällige Sozialversicherungsabkommen. Ein solches besteht zwischen der USA und der Schweiz, das hier von Relevanz sein kann.
Dementsprechend hätten minderjährige Kinder, auch wenn sie noch amerikanische Staatsangehörigkeit haben, Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen der schweizerischen Invalidenversicherung, wenn sie in der Schweiz Wohnsitz haben und bei Eintritt der Invalidität während mindestens einem Jahr ununterbrochen in der Schweiz gewohnt haben. Der Anspruch auf solche Massnahmen steht ihnen auch zu, wenn sie in der Schweiz wohnen und dort entweder invalid geboren sind oder seit der Geburt ununterbrochen gewohnt haben. Wird die Schweiz innerhalb eines Jahres während weniger als zwei Monaten verlassen, so gilt dies nicht als Unterbrechung der Wohnzeit.
Als Eintritt der Invalidität gilt dabei der Zeitpunkt, indem die fragliche Leistung (also hier medizinische Massnahmen) erstmals objektiv angezeigt waren; soweit dies auf Geburtsgebrechen zurück geht, gilt jener Zeitpunkt als relevant (BGE 133 V 303).
Es ist also in Ihrem Fall davon auszugehen, dass die versicherungsmässigen Voraussetzungen aufgrund der Adoption ab dem Zeitpunkt des Erwerbs des CH-Bürgerrechts bestehen.
5.) Bitte beachten Sie: Wenn die Schule abgeschlossen ist, und behinderungsbedingt ein Bedarf an Leistungen zur erstmaligen beruflichen Ausbildung bestehen (Mehrkosten für die Absolvierung der Lehre z.B.), so wird diesbezüglich das Bestehen der versicherungsmässigen Voraussetzungen spezifisch bestimmt.
6. In Ihrem Fall könnte erfahrungsgemäss das Bestehen der versicherungsmässigen Voraussetzungen, trotz der vorne genannten Rechtslage, bestritten werden. Ebenso lohnt es sich, den Antrag bzgl. der medizinischen und eingliederungsbezogenen Notwendigkeit der Massnahmen gut zu begründen. Ich rate daher dazu, sich vor Antragstellung über eine spezialisierte Rechtsberatung (etwa Procap oder Inclusion Handicap) beraten zu lassen.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot