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Anrechnung von wiederholten Zuwendungen bei Spielsucht

Veröffentlicht:
04.06.2024
Kanton:
Bern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Guten Tag

Wir unterstützen seit Kurzem eine fünfköpfige Familie, deren Vater spielsüchtig ist und wiederholt Zuwendungen (von der Familie als Darlehen bezeichnet) erhält, welche er direkt ins Glücksspiel investiert. Im März waren dies CHF 3'500 und im Mai CHF 4'000.00. Gemäss unserer Auffassung müssten diese Zuwendungen grundsätzlich in der Berechnung des Unterstützungsbedarfs miteinbezogen werden. Gleichzeitig befinden sich die Familienangehörigen in einer Notlage, weil sie ja keinen Zugriff auf das ausgelehnte Geld haben.

Zum Kontext:

Für die Ehefrau ist eine Trennung aktuell kein Thema, das von ihr erwirtschaftete Einkommen reicht nicht aus, um den Bedarf der Familie abzudecken.

Die Familie besitzt ein Auto über dem Vermögensfreibetrag, hier gedenken wir einen Vermögensverzehr zu verfügen. Da die Familie das Auto unbedingt behalten möchte, würden wir ihr auch entgegenkommen und den Vermögensverzehr in Raten abziehen.

Der Familienvater ist nebst der Spielsucht lungenerkrankt, arbeitet jedoch gelegentlich in einer Disco als Sänger. Es besteht kein Arbeitsvertrag. Bezüglich einer Suchtberatung zeigt er sich nicht kooperativ, Spielsperren sind für internationale Onlinespiele gemäss Beratung der Berner Gesundheit nicht möglich.

Wie sollen wir mit wiederholten Zuwendungen Dritter sozialhilferechtlich umgehen, wenn die Zuwendungen unmittelbar für eine Spielsucht verbraucht wird?

 

Besten Dank für Ihre Antwort.

 

Freundliche Grüsse

Frage beantwortet am

Anja Loosli

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Tag

Ich bedanke mich für Ihre Frage und beantworte diese gerne folgendermassen:

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern sind gestützt auf das Subsidiaritätsprinzip auch Darlehen als Einnahmen anzurechnen (BGer 8C_140/2012 vom 17.8.2012 E. 7.2.1, 2P.127/2000 vom 13.10.2000 E. 2a f.; VGE BE 200 16 697 vom 21.12.2016 E. 3.2.2). Guido Wizent plädiert in seinem Buch «Sozialhilferecht» (1. Auflage, Zürich/St. Gallen 2020, N 650) dafür, dass im Einzelfall Ausnahmen zuzulassen seien. Dabei seien dieselben Ausnahmen zu machen wie bei den übrigen freiwilligen Zuwendungen von Dritten. Im Handbuch BKSE (SKOS-RL D.1 Lit. m) wird empfohlen, auf die Anrechnung von freiwilligen Zuwendungen Dritter zu verzichten, wenn sie dem Zweck der Sozialhilfe entsprechen (z.B. Bezahlung sinnvoller Zusatzversicherung) und einen relativ bescheidenen Umfang haben. Sämtliche Zuwendungen und Nutzungen, die eine deutliche Besserstellung der Klientel zur Folge haben, seien dagegen im Budget auf der Einnahmenseite anzurechnen. Guido Wizent erachtet bei hohen Zuwendungen die Anrechnung auch dann angezeigt, wenn aufgrund der Höhe der Zuwendung die Gefahr einer erheblichen Verschuldung entsteht (Guido Wizent, Sozialhilferecht, Zürich/St. Gallen 2020, N 650).

Da die Darlehen vorliegend der Finanzierung einer Spielsucht und damit nicht dem Zweck der Sozialhilfe dienen und zudem relativ hoch sind, sind die Voraussetzungen zur Anrechnung grundsätzlich gegeben.

Sie führen aber zu Recht aus, dass die Notlage der Familienangehörigen – insbesondere der Kinder – welche keine Schuld an der Spielsucht des Vaters trifft, zu berücksichtigen ist. Es ist richtigerweise den in Art. 25 SHG BE verankerten Gegebenheiten des Einzelfalls angemessen Rechnung zu tragen.

Da die Darlehen im März und Mai 2024 ausbezahlt und wohl bereits verbraucht wurden, können sie heute nur noch mittels Rückerstattungsverfügung angerechnet werden (Art. 40 Abs. 5 SHG BE). Die rechtskräftigen Rückerstattungsansprüche können dann mit den Sozialhilfeleistungen verrechnet werden (Art. 44b Abs. 1 SHG BE). Bei der Höhe der Verrechnung kann darauf Rücksicht genommen werden, dass sich Kinder in der Unterstützungseinheit befinden oder mit anderen Worten: Die monatliche Verrechnung kann tief gehalten werden.

Betreffend das Vorgehen bezüglich allfällig weiterer Darlehen kann ich Ihnen keine abschliessende Antwort geben. Gerne führe ich aber meine Überlegungen aus. Wichtig scheint mir, dass der Ehemann und die Ehefrau darauf hingewiesen werden, dass allfällige Darlehen auch künftig angerechnet werden. Wie Sie bezüglich der Anrechnung aber vorgehen, liegt meines Erachtens bis zu einem gewissen Grad Ihrem Ermessen. Die rechtlich korrekteste aber für das Kindswohl nicht befriedigende Lösung fände ich folgende: Sie verlangen vor der jeweiligen monatlichen Auszahlung einen Kontoauszug und Auskunft über allfällige Darlehen im letzten Monat und rechnen diese im Folgemonat als Einnahme an. Dies könnte je nach Monat zur Folge haben, dass die Familie nicht bedürftig ist und keine Unterstützungsleistungen erhält. Die Ehefrau und die Kinder würden aber über keine finanziellen Mittel verfügen, weil der Ehemann das Darlehen für Spiele ausgegeben hat. Dann wäre eine Meldung an die KESB wegen Kindswohlgefährdung angezeigt. Um das Wohl der Kinder nicht zu gefährden, liesse sich deshalb überlegen, den Vater ausnahmsweise und entgegen dem Grundsatz aus der Unterstützungseinheit zu nehmen und nur ihm die Darlehen als Einnahmen anzurechnen und die Mutter und die Kinder trotz allfälligem Darlehen weiter zu unterstützen. Dies entspricht allerdings nicht vollständig den rechtlichen Grundlagen (SKOS-RL C.2 Erläuterungen lit. b) und würde wohl dazu führen, dass die Familie einfach mit weniger Geld leben würde und das Wohl der Kinder dennoch gefährdet und eine Kindswohlgefährdung angezeigt bleibt. Eine weitere Möglichkeit wäre, die Darlehen auch zukünftig immer erst im Nachhinein mittels Rückerstattungsverfügung anzurechnen und dann mit den Unterstützungsleistungen zu verrechnen. Damit wäre das Kindswohl wohl am wenigsten gefährdet. Es würde aber allenfalls ein Schuldenberg gegenüber der Sozialhilfe aufgebaut und der Druck, mit dem Spielen aufzuhören bzw. keine Darlehen mehr fürs Spielen aufzunehmen, wäre weniger gross. Zudem erachte ich es als etwas heikel, die Darlehen sozusagen absichtlich erst im Nachhinein festzustellen.

Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort helfen zu können.

Freundliche Grüsse