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AHV-Kinder-, und Waisenrentenanspruch bei Stiefeltern nach Scheidung

Veröffentlicht:
05.10.2018
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht

Sehr geehrte Damen und Herren
Mein Klient ist 19 Jahre alt, hat seine Erstausbildung (EBA) im Sommer 17 abgeschlossen und im direkten Anschluss ein (obligatorisches) Sozialpraktikum begonnen, welches ab August18 zu einem neuen Lehrvertrag (FABE, EFZ) führte. Seit seinem 2 Lebensjahr lebte er mit seinen Geschwistern bei seinem Stiefvater (AHV-Rentner). Seine leibliche Mutter verliess die Familie als er 14 Jahre alt war, die Kinder blieben weiterhin beim Stiefvater wohnen. Zur Mutter hat er keinerlei Kontakt, sie bezieht jedoch Sozialhilfe. Der leibliche Vater zahlt Fr. 90.- Alimente (Unterhaltsvertrag). Während der Erstausbildung hat er via Stiefvater eine AHV-Kinderrente erhalten.
Der Tod des Stiefvaters im Aug18 veranlasste uns nun dazu einen Antrag auf AHV-Halbwaisenrente zu stellen. Dieser wurde gerade mit einer Ablehnung verfügt, da durch die Scheidung (Nov17) von Stiefvater und leiblicher Mutter, kein Pflegeverhältnis mehr bestehe. Wir möchten nun a) Rechtsmittel einlegen, da unserer Meinung nach, das Pflegeverhältnis zwischen Stiefvater und Sohn bis zum Tode bestand und dies auch nachgewiesen werden kann. Des Weiteren möchten wir einen b) (rückwirkenden) AHV-Kinderrentenanspruch für die Zeit des obligatorischen Praktikums prüfen lassen.
Braucht es für a) weitere Argumente oder besteht bei nicht vorhandenem Anspruch die Möglichkeit auf ein Härtefallgesuch (Ablehnungsverfügung der Sozialhilfe liegt bereits vor -> Zweitausbildung wird nicht unterstützt)? Wie verhält es sich mit dem b) rückwirkenden Anspruch während des Sozialpraktikums?
Herzlichen Dank und freundliche Grüsse
Christoph Walter

Frage beantwortet am

Daniel Schilliger

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Sehr geehrter Herr Walter
Pflegekinder, die unentgeltlich und dauernd aufgenommen worden sind und deren Pflegevater oder deren Pflegemutter gestorben ist, haben Anspruch auf eine Waisenrente (Art. 49 Abs. 1 AHVV).
Im Einzelnen müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
Erstens muss zwischen Pflegekind und Pflegeeltern oder dem Pflegeelternteil ein eigentliches Pflegeverhältnis bestanden haben. Das Kind muss zur Pflege und Erziehung und nicht zur Arbeitsleistung oder beruflichen Ausbildung in die Hausgemeinschaft der Pflegeeltern aufgenommen worden sein und dort faktisch die Stellung eines eigenen Kindes innegehabt haben. Auch Stiefeltern, die ein Stiefkind in die Hausgemeinschaft aufgenommen haben, gelten zusammen mit dem Elternteil als Pflegeeltern.
Zweitens muss das Pflegeverhältnis vor dem Rentenfall unentgeltlich gewesen sein. Ergibt sich die Unentgeltlichkeit des Pflegeverhältnisses nach dem Eintritt des Rentenfalles, kann für das Pflegekind kein Anspruch auf Waisenrente mehr entstehen (ZAK 1967 S. 615). Unentgeltlich ist das Pflegeverhältnis, wenn die an die Pflegeeltern für das Kind von dritter Seite erbrachten Leistungen (z.B. Unterhaltsbeiträge der Eltern oder von Verwandten, Alimentenbevorschussung, Kostgelder, Sozialversicherungsrenten, private Versicherungsleistungen) weniger als einen Viertel der tatsächlichen Unterhaltskosten decken (ZAK 1958 S. 335; ZAK 1973 S. 573) (Zum Ganzen: Wegleitung über die Renten (RWL) in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung 3307).
Beide Voraussetzungen scheinen hier erfüllt gewesen zu sein, weshalb die Kinderrente auch zugesprochen wurde.
Gemäss Art. 49 Abs. 3 AHVV erlischt der Anspruch unter anderem dann, wenn das Pflegekind zu einem Elternteil zurückkehrt oder von diesem unterhalten wird. Dementsprechend wurde im Bundesgerichtsentscheid 9C_406/2007 auch entschieden, dass bei Trennung der Mutter vom Stiefvater, das Pflegekindverhältnis erlischt und damit die Kinderrente wegfällt. Massgebend ist aber nach dem Verordnungstext nicht die Trennung der Erwachsenen, sondern das Zurückkehren des Kindes zum Elternteil.
Im vorliegenden Fall ist die Situation anders, da der Stiefvater (auch nach der Trennung) in Hausgemeinschaft mit dem Stiefkind (= Pflegekind) lebte und ihn auch weiterhin unterstützte. Daher haben Sie meines Erachtens gute Argumente für ein Weiterlaufen der Kinder- bzw. Waisenrente über die Trennung hinaus. Ich würde eine Einsprache empfehlen.
Ein Praktikum wird als Ausbildung anerkannt, wenn es gesetzlich oder reglementarisch für die Zulassung zu einem Bildungsgang oder zu einer Prüfung vorausgesetzt ist, oder zum Erwerb eines Diploms oder eines Berufsabschlusses verlangt wird (RWL 3361; betreffend das Erwerbseinkommen während des Praktikums siehe Rz 3366 ff.). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so wird ein Praktikum trotzdem als Ausbildung anerkannt, wenn – es für eine bestimmte Ausbildung faktisch geboten ist und mit dem Antritt des Praktikums tatsächlich die Absicht besteht, die angestrebte Ausbildung zu realisieren (BGE 139 V 209) und das Praktikum im betreffenden Betrieb höchstens ein Jahr dauert (BGE 140 V 299).
Wenn das Praktikum also obligatorisch war, dann gehört es zu Ausbildung und ein Anspruch auf Kinderrente besteht.
Ob eine Erst- oder ein Zweitausbildung vorliegt, ist im Übrigen für den Anspruch auf eine Kinder- bzw. Waisenrente nicht relevant. Entscheidend ist unter anderem nur, dass eine Ausbildung vorliegt, die dem Ausbildungsbegriff entspricht. Auch während der FABE Ausbildung kann also eine Waisenrente bezogen werden.
Freundlicher Gruss
Daniel Schilliger