Sehr geehrte Damen und Herren
Eine Klientin, die von Juli 2018 bis Juli 2020 mit Sozialhilfe unterstützt wurde, bekam rückwirkend per Juli 2018 eine ganze IV-Rente und anschliessend Ergänzungsleistungen. Somit konnte sie vom Sozialdienst abgelöst werden. Mit der Schlussabrechnung unsererseits verrechneten wir die gesamthaft bezogene Sozialhilfeleistung im Umfang von über CHF 95'000.00 mit den von der Sozialhilfe bevorschussten IV-Renten und Ergänzungsleistungen. Unter den verrechneten Ausgaben befinden sich auch vorsorglich ambulante Massnahme in Form von einer Familienbegleitung (CHF 18'000.-). Die Anmeldung zur Familienbegleitung erfolgte nach Absprache mit der Klientin auf Antrag deren Psychologin durch unseren Sozialdienst. Die Klientin sagt nun, sie sei nie darüber aufgeklärt worden, dass sie für die Kosten der Familienbegleitung aufkommen müsse. Im Gegenteil, ihr wurde angeblich bei der Errichtung der Familienbegleitung versichert, dass sie diese Kosten nicht selber übernehmen muss (dies ist jedoch nicht so dokumentiert). Nun zu meiner Frage:
Darf der Sozialdienst vorsorglich ambulante Massnahmen in Form von einer Familienbegleitung bei der Verrechnung als Ausgaben der Klientin anrechnen und diese mit der bevorschussten IV-Rente und den Ergänzungsleistungen verrechnen?
Vielen Dank im Voraus für Ihre Rückmeldung.
Freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Guten Tag.
1) Zunächst ist hier die sozialhilferechtliche Rückerstattungspflicht bzgl. der Kosten für Familienbegleitung zu prüfen. Da ist zu beachten, dass diese Frage primär kantonalrechtlich geregelt ist.
E.2.4 Abs. 2 lit. a der SKoS-Richtlinien sehen für die WSH vor, dass keine Leistungen zurückgefordert werden sollen, die zur Förderung der beruflichen und sozialen Integration gewährt wurden. Dazu gehören leistungsbezogene Hilfen wie Integrationszulagen und Einkommensfreibeträge und auch die situationsbedingten Leistungen in diesem Zusammenhang.
Eine Rückerstattungspflicht bei solchen Leistungen ist aber gemäss den SKoS-RL möglich, wenn Sozialhilfe nachträglich mit bevorschussten Leistungen verrechnet wird (SKoS-RL E.2.4 Abs. 3).
2) Die Kantone haben dies in ihren Gesetzen zum Teil auch so oder ähnlich geregelt. Zum Teil werden aber auch gesetzlich oder in der Praxis mit Blick auf die verschiedenen Rückerstattungskonstellationen unterschiedliche oder differenzierende Regelungen oder Handhabungen vor. Im Kanton Bern ist nach einer Gesetzesnovelle seit 1.1.2022 die Rückerstattung in der Sozialhilfe seitens der Eltern auch für solche Massnahmenkosten grundsätzlich möglich (siehe Art. 40 bis 43 SHG BE). Zuvor waren Kosten von institutionellen Leistungsangeboten nicht rückerstattungspflichtig (Art. 43 Abs. 1 SHG in der Fassung bis 31.12.2021). Im engen Sinne gehörten aber Familienbegleitungen nicht dazu. Schon vor der Anpassung von Art. 43 SHG BE war die Praxis im Kanton Bern uneinheitlich, ob bei Familienbegleitungen die Rückerstattung auf der Basis von Art. 43 SHG ausgeschlossen war oder nicht. Das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz hat hierzu per 1.1.2022 eine Klärung gebracht.
3) Übergangsrechtlich dürfte im vorliegenden Fall die jetzige Fassung des SHG zur Anwendung kommen, welches auf jeden Fall keine Ausnahme für "institutionelle Sozialhilfe" mehr vorsieht. Es ist vom Sachverhalt her nicht auszuschliessen, dass im vorliegenden Fall auf der Basis des früheren Rechts den Betroffenen zugesagt wurde, dass die Kosten der Familienbegleitung nicht verrechnet werden. Ohne Belege hierfür fehlt aber eine Grundlage, auf der Basis des Vertrauensprinzips deswegen auf die Verrechnung zu verzichten.
4) Aufgrund der Übergangssituation kann es hier gerechtfertigt sein eine Vereinbarung zu finden, welche den Fall so behandelt wie eine Familienbegleitung nach Kindes- und Jugendhilfegesetz verrechnet würde. Im Zweifel kann auch der kantonale Sozialdienst oder das Jugendamt um seine Meinung zu dieser übergangsrechtlichen Frage angegangen werden.
5) Für die Verrechnung sind im Weiteren die allgemeinen Grundsätze relevant: Entscheidend ist also, ob die Kosten in einem Zeitraum entstanden sind, auf den sich die Nachzahlung der IV bezieht (vgl. Art. 22 Abs. 2. lit. a ATSG).
Prof. Peter Mösch Payot