Guten Tag
Der Kt. VD hat einer Interessentin (seit Kindheit schwer depressive Episoden, Ängste, chronische Suizidalität, emotional instabil, hoch sensibel, Erschöpfungszustände, Dissoziation, Anoreixie) die Finanzierung des Aufenthalts bei uns (Kt. Bern) verwehrt. (Wir sind auf der IVSE-Liste, die Klientin hat jedoch keine IV-Rente.) Sie hat uns als Anschlusslösung an einen Klinikaufenthalt gewählt, weil sie noch zuwenig stabil ist, um in ihre Wohnung zurückzukehren.
Das besondere an unserer Institution ist, dass wir Wohnen, Tagesstruktur und Therapie aus einer Hand anbieten, sowie einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen (auch pferdegestützte Therapie, Yoga usw.). Der Kanton VD fordert, dass die Klientin ein Wohnheim im Kanton VD sucht. Es gibt dort jedoch kein vergleichbares Angebot. Die Aerzte der Klinik, ihre Psychiaterin und unsere Psychologin haben alle Schreiben an den Kanton verfasst und begründet, weshalb ein Aufenthalt bei uns indiziert ist. Hat der Kanton das Recht, diesen Antrag abzulehnen?
Danke für eine Rückmeldung.
Freundliche Grüsse
FH
Frage beantwortet am
Anja Loosli Brendebach
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Honegger
Vielen Dank für Ihre Frage. Darf ich eine Nachfrage stellen? Welche Behörde des Kantons Wadt lehnt den Aufenthalt in Ihrer Institution ab?
Freundliche Grüsse
Anja Loosli Brendebach
Guten Tag Frau Loosli Brendebach
Das Gesuch ging zuerst an den Sozialdienst Lausanne )https://www.lausanne.ch/officiel/administration/sport-et-cohesion-sociale/social.html), welcher sich dann betr. Finanzierung auf den ablehnenden Entscheid der kantonalen Behörde DGCS "Direction générale de la cohésion sociale" bezog. Die Antwort vom Sozialdienst lautete:
Ma hiérarchie m'a confirmé que la DGCS, par le biais de la LAPRAMS*, n'allait pas intervenir pour une aide financière si Mme xy est hébergée dans un EPSM hors du canton de Vaud.
* Le canton de Vaud propose des aides financières aux personnes devant être hébergées dans un EMS ou un EPSM, en complément au régime fédéral des prestations complémentaires AVS/AI (PC AVS/AI), il s'agit de la Loi d'Aide aux Personnes Recourant à l'Action Médico-Sociale (LAPRAMS).
MfG
Franziska Honegger
Frage beantwortet am
Anja Loosli Brendebach
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Honegger
Vielen Dank für Ihre rasche Antwort. Ich entschuldige mich für die späte Antwort, bedingt durch die zeitaufwändigen rechtlichen Abklärungen.
In einem ersten Schritt massgebend ist das Bundesgesetz über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG). Dieses bezweckt, invaliden Personen den Zugang zu einer Institution zur Förderung der Eingliederung zu gewährleisten (Art. 1 IFEG). Es kann sich um Werkstätten, Wohnheime und Tagesstätten handeln (Art. 3 IFEG). Findet eine invalide Person keinen Platz in einer von ihrem Wonsitzkanton anerkannten Institution, die ihren Bedürfnissen in angemessener Weise entspricht, so hat sie Anspruch darauf, dass der Kanton sich im Rahmen an den Kosten des Aufenthalts in einer ausserkantonalen Institutuion beteiligt, welche die Anerkennungsvoraussetzungen (Art. 5 IFEG) erfüllt.
Voraussetzung für die Pflicht eines Kantons, den Aufenthalt in einer Institution in einem anderen Kanton bezahlen zu müssen, sind also Folgende:
Invalidität
Kein Platz im Wohnsitzkanton, der den Bedürfnissen der betroffenen Person entspricht
Zur Invalidität
Das IFEG definiert die Invalidität nicht. Greift man auf Art. 112 b der Bundesverfassung (BV) zurück, in dem bestimmt wird, dass der Bund die Eingliederung von invaliden Personen fördert, wofür das IFEG die Ausführungsbestimmung ist, können die Kommentare zu Art. 112 b BV herangezogen werden. So schreibt Ueli Kieser im St. Galler Kommentar von 2014 dass es betreffend den Invaliditätsbegriff von Art. 112 b BV zunächst offensichtlich sei, dass es sich dabei nicht um eine Renten begründende Invalidität (d.h. eine dauernde Erwerbsunfähigkeit von mindestens 40%) handele, denn zweifellos solle der Anwendungsbereich der Verfassungsbestimmung nicht auf Volljährige (welche einzig IV-Renten beziehen können; vgl. Art. 29 Abs. 1 IVG) beschränkt werden. Vielmehr gehe es um einen offenen, nicht leistungsspezifischen Invaliditätsbegriff, wie er insgesamt dem Invalidenversicherungsrecht zugrunde liege (vgl. Art. 4 Abs. 2 IVG). Gekennzeichnet sei die Invalidität insoweit durch eine gesundheitliche Einbusse (und zwar aufgrund von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall; vgl. Art. 4 Abs. 1 IVG), welche zu einem Verlust der Erwerbsmöglichkeiten führt bzw. einen solchen Verlust voraussichtlich zur Folge haben werde; es könne auch eine Unmöglichkeit vorliegen, dass sich die betreffende im sogenannten Aufgabenbereich (z.B. Haushaltführung) betätige.
Die bei Ihnen wohnende Person bezieht keine IV-Rente. Wenn sie mit entsprechenden Arztzeugnissen aber belegen kann, dass sie eine gesundheitliche Einbusse hat, die zum (teilweisen) Verlust der Erwerbsfähigkeit führt, kann sie demnach als invalid gelten.
Zum ausserkantonalen Heim
Sie schreiben, dass es kein Wohnheim im Kanton Waadt gibt, das die Bedürfnisse der Person erfüllt, die in Ihrem Heim wohnt. Es gäbe diverse Arztberichte, die dies bestätigen würden. Ob diese Meinung zutreffend ist, kann ich nicht beurteilen. Wichtig ist, dass konkret aufgezeigt wird, was die invalide Person für Bedürfnisse hat und dass es dafür keine Institution im Kanton Waadt gibt.
Zwischenfazit: Kann nachgewiesen werden, dass die bei Ihnen wohnende Person invalid im Sinne des IFEG ist und es im Kanton Waadt keinen Platz gibt, der ihren Bedürfnissen entspricht, Ihr Heim ihren Bedürfnissen aber entspricht, hat die in Ihrer Institution wohnende Person Anspruch auf Übernahme der Heimkosten durch den Kanton Waadt.
Meiner Ansicht nach war der von Ihnen formal gewählte Weg mit dem Antrag an die Sozialhilfe Lausanne aber nicht der richtige Weg.
Kann die Person nämlich als invalid nach IFEG gelten, kommt die IVSE-Vereinbarung zur Anwendung, ist Ihre Institution doch IVSE-anerkannt. Es käme der Bereich B für erwachsene, invalide Personen zur Anwendung. In diesem Fall müsste für die Kostentragung ein Kostenübernahmegesuch bei der kantonalen Verbindungsstelle des Kantons Bern (Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern) gestellt werden (Art. 11 IVSE). Die Gesuchsformulare finden sich im Internet. Die Verbindungsstelle Bern müsste das Gesuch an den Wohnkanton – hier Waadt – weiterleiten. Die Verbindungsstelle des Kantons Waadt entscheidet dann über die Kostenübernahme. Nur die individuellen Nebenkosten wie Kleider, Taschengeld usw. werden nicht vom Kanton getragen. Diesbezüglich ist bei Bedürftigkeit ein Gesuch an die Sozialhilfe des Unterstützungswohnsitzes nach dem Zuständigkeitsgesetz (ZUG) zu stellen (der Aufenthalt in einem Heim oder einer anderen Einrichtung begründen nach Art. 5 ZUG keinen Wohnsitz. Der bisherige Wohnsitz bleibt bestehen). Die Sozialhilfe muss diese – und nur diese Kosten – für die Zeit übernehmen, während der eine bedürftige Person sich in einer Einrichtung Bereich B nach IVSE aufhält und der Aufenthalt bewilligt wurde.
Kann der Beweis nicht erbracht werden, dass die betroffene Person invalid ist, so kommen weder die Bestimmungen des IFEG noch der IVSE-Vereinbarung zur Anwendung. Dann muss der Kanton Waadt den Aufenthalt in einer ausserkantonalen Institution nur dann finanzieren, wenn es kantonale gesetzliche Grundlagen dafür gibt und die dortigen Voraussetzungen erfüllt sind. Aus dem von der Sozialhilfe Lausanne genannten Erlass ist für mich nicht ohne Weiteres herauszulesen, dass die Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht gegeben sind. Weil Behörden Entscheide aber ausreichend und nachvollziehbar begründen müssen, schlage ich vor, dass sie bei der Sozialhilfe Lausanne rückfragen. Sie soll genauer – also nicht nur mit der generellen Nennung eines Gesetzes sondern auch den für den fraglichen Fall massgebenden Bestimmungen – begründen, weshalb die kantonalen Voraussetzungen zur Übernahme der Kosten nicht gegeben sind. Es besteht ein Anspruch auf Begründung. Auch kann die betroffene Person eine anfechtbare Verfügung verlangen. Gerne können Sie sich nach erfolgter Rückmeldung der Sozialhilfe Lausanne erneut an sozialinfo.ch wenden. Auch können Sie sich gerne wieder an sozialinfo.ch wenden, wenn der Antrag auf Übernahme der Kosten nach IVSE-Vereinbarung durch den Kanton Waadt abgelehnt wird, weil eine der Voraussetzungen (Invalidität oder fehlendes spezifisches Angebot im Kanton Waadt) nicht gegeben seien.
Abschliessend vorgeschlagenes Vorgehen:
Sie als Institution stellen bei der kantonalen Verbindungsstelle Bern ein Gesuch um Übernahme der Heimkosten durch den Kanton Waadt.
Die betroffenen Person stellt bei der Sozialhilfe in Lausanne (wenn das ihr Wohnsitz vor Eintritt war) ein Gesuch um Übernahme der Nebenkosten wie Taschengeld während des Aufenthalts, wenn sie nicht über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, um diese selbst zu bezahlen (z.B. bereits Sozialhilfeempfängerin ist).
Gleichzeitig verlangen Sie von der Sozialhilfe Lausanne eine genaue Begründung mit Nennung der konkreten kantonalen Gesetzesartikel, weshalb die kantonalen Voraussetzungen für die Übernahme der Heimkosten nicht gegeben sind.
Falls im Zusammenhang mit IVSE eine abschlägige Antwort erhalten und/oder die Begründung der Sozialhilfe betreffend fehlende Voraussetzungen nicht nachvollziehen können, wenden Sie sich wieder an sozialinfo.ch
Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen zu können.
Freundliche Grüsse
Anja Loosli Brendebach
Guten Tag Frau Loosli Brendebach
Ganz ganz herzlichen Dank für diese sehr ausführliche und hilfreiche Antwort. Ich bin sehr beeindruckt!
MfG Franziska Honegger