Guten Tag!
Mit dem ab 2022 neuen Art. 28. Abs. 1bis IVG, wonach die Rente nicht zugesprochen wird solange die Möglichkeiten zur Eingliederung nicht ausgeschöpft seien, ergeben sich in der Praxis etwas gar schwierige Konstellationen, welche mir Kopfzerbrechen bereiten - im Hinblick auf erhebliche Einkommenslücken und Folgeprobleme mit der Pensionskasse:
Der neue Kommentar zur Rechtsprechung (Meyer/Reichmuth) äussert sich zum neuen Artikel dahingehend, dass die Rechtsprechung nach den gleichen bisherigen Grundsätzen entscheide und ein Rentenanspruch auch dann nach Ablauf des Wartejahres entstehe, wenn die Person dann nicht oder noch nicht eingliederungsfähig war. Da liegt jedoch ein extremes Ermessen und mir scheint, dass da diverse Akteure "irgend etwas" dazu sagen können und die Klientschaft hat wenig Möglichkeiten, sich dem entgegenzustellen.
Es gibt ja eben auch das Urteil vom BG 9C_380/2021 vom 31. Januar 2022, welches diesen Aspekt sehr ausweitet ("Solange IM in Betracht fallen können, ist der Anspruch auf eine Rente deshalb nicht zu prüfen und kann eine Rente nicht zugesprochen werden. (...) Dass der Rentenanspruch grundsätzlich erst nach Beendigung der EM entstehen kann, gilt dabei selbst im Fall, dass diese nur einen Teilerfolg brachten oder scheiterten".)
Insgesamt erscheint mir diese nun damit doch eher strenger und vor allem sehr "ungewiss" angelegte Praxis äusserst schwierig in Anbetracht vom geltenden und eigentlich guten Grundsatz "Eingliederung vor Rente", aber dem Wissen darum, dass es teilweise äusserst lange geht, bis überhaupt Massnahmen von Seite der IV zu laufen beginnen, diese nicht immer zwingend IV-Taggelder auslösen, Gutachter gut und gerne rückwirkend über Jahre eine Eingliederungsfähigkeit attestieren und dass es oftmals auch gescheiterte Versuche gibt, die zeigen, dass es eben gerade nicht geht... Die Meinungen über die bestehende oder fehlende Eingliederungsfähigkeit sind also enorm dem Ermessen "ausgeliefert", werden von der IV selten als Abklärungsmassnahmen zu Prüfung der Eingliederungsfähigkeit benannt und "gelinde" gesagt können gestützt auf diesen Artikel die Rentenleistungen eingespart werden. Und die Streitigkeiten darüber wohl ausgeweitet werden. Ich habe nun jedenfalls bereits zwei strittige Fälle pendent, da ich einen früheren Rentenbeginn beanstanden und verlangen musste.
Welche Erfahrungen und Empfehlungen gilt es diesbezüglich besonders zu berücksichtigen?
Vielen Dank für die Rückmeldung - und alles Gute fürs 2023!
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Guten Tag!
Ich teile die in der Anfrage dargestellte Einschätzung.
Das Urteil BGer 9C_380/2021 vom 31. Januar 2022 hat hier das Feld eröffnet für viele Unklarheiten und neue Rechtsstreitigkeiten.
Die Frage, ob Tatsachen vorliegen, die dazu führen, dass Eingliederungsmassnahmen (noch) in Betracht kommen, ist nämlich häufig nicht eindeutig zu beantworten. Genau so wenig wie die Antwort auf die Frage, ob von Eingliederungsmassnahmen noch Verbesserungen zu erwarten sind.
Offen ist auch, wie diese positive Eingliederungsprognose substantiiert sein muss, damit ein Rentenanspruch noch nicht entstehen kann...
Das Urteil hat dazu geführt, dass IV-Stellen, bei der Festsetzung des Zeitpunktes, ab dem (rückwirkend) eine Rente gewährt wird, in der Vergangenheit eine etwas grosszügigere Praxis kannten, diese nun aufgegeben haben.
Auch die entsprechende Passage im neuen IVG-Kommentar bringt keine weitere Klarheit. Sondern bestätigt die neue Praxis, dass das Nichtbestehen von Eingliederungsfähigkeit ein zusätzliches Kriterium ist, ab wann ein Rentenanspruch frühestens bestehen kann.
Wie in der Frage berechtigterweise auch bereits dargelegt ist, ist im Weiteren zu beachten, dass diese Frage danach, wann die Eingliederungsfähigkeit nicht (mehr) oder (noch) nicht bestand, oft sehr viel später beurteilt wird. Etwa im Rahmen von Gutachten, welche die Grundlage bieten für die Rentenvorbescheide/Entscheide.
Immerhin lässt sich aus diesen Aspekten der Ausgangslage für die Sozialberatung Folgendes ableiten: Es ist wichtig, Indizien und Beweise für das überwiegend wahrscheinliche (Noch-)Nichtbestehen der Eingliederungsfähigkeit gut zu dokumentieren und ev. zu erheben. Und möglichst rasch ins IV-Verfahren einzubringen.
So etwa entsprechende Indizien aus dem Verlauf von Eingliederungsmassnahmen, aber insb. auch aus medizinischen Berichten behandelnder (Spezial-)ärzt*innen.
Eine Reihe von Fragen zum Rentenbeginn mit fehlender Eingliederungsfähigkeit bleiben ungeklärt. Insoweit ist die weitere Rechtsprechung abzuwarten.
Ich hoffe, das dient! Alles Gute!
Prof. Peter Mösch Payot
Vielen Dank - auch wenn ich ungerne vernehme, dass meine Befürchtungen richtig waren:
In Bezug auf die Empfehlung an die Sozialberatung: Es kommt damit also quasi einem grundsätzlichen Praxiswechsel gleich, da im Grundsatz ja bisher die Klientschaft (und auch die AerztInnen) auch bei schwierigster gesundheitlicher Ausgangslage eigentlich angeregt wurde, möglichst früh Eingliederungsmassnahmen zu verlangen/daran teilzunehmen (und wenn möglich sogar mit einem der IV-vorgelagerten oder -zuvorkommenden Programm die Eingliederung vorzubereiten oder zu unterstützen), um ja nicht die Schadenminderungspflicht zu verletzen - auch wenn die IV z. T. von einem IV-Taggeld absieht.
Mit der neuen Praxis erachte ich ehrlich gesagt aus meiner Sicht solche Empfehlungen an die KlientInnen schon fast als widersprüchlich, wenn ich weiss, dass die Konsequenzen späteres Einsetzen der Rente sein können. Meine Intervention wird somit zukünftig in die Richtung laufen, möglichst mit "Abklärung der Eingliederungsfähigkeit" zu starten - statt direkt mit Eingliederung. Könnte dann evt. retrospektiv irgendwann dienlich sein, so wie natürlich das erwähnte und empfohlene Sammeln und Einbringen von Indizien. Wir bleiben gefordert! Merci viel Mal.
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Ja, es ist nun wohl noch wichtiger, bei der Planung möglicher Integrations- und Eingliederungsmassnahmen, die Einschätzung einer Eingliederungsfähigkeit präzise zu benennen und festzuhalten.
Das kann mit Blick auf eine mögliche spätere Rente und deren Beginn wichtig sein. Überdies auch für die Frage der Eignung (und insg. der Angemessenheit) einer geplanten Eingliederungsmassnahme.
Aus meiner Sicht kann sich die fehlende Eingliederungsfähigkeit natürlich auch aus den Erfahrungen im Rahmen einer Eingliederungsmassnahme ergeben. Auch hier sollte eine entsprechende Dokumentation nicht unterlassen werden und noch mehr als bisher geprüft werden, was dazu in den IV-Akten aufgeführt wird.