Guten Tag,
Die Krankschreibung von Patienten während dem stationären Aufenthalt wird in der Psychiatrie unterschiedlich gehandhabt. Die einen Teams schreiben Patienten während dem Aufenthalt konsequent zu 100% arbeitsunfähig. Andere erlauben im Verlauf des Klinikaufenthaltes eine Teilarbeitsfähigkeit zur Aufnahme der Erwerbstätigkeit von der Klinik aus. Wiederum andere Teams lassen Patienten bis zu 100% arbeitsfähig, mit dem Ziel, die Arbeitstätigkeit von der Klinik aus zu fördern; oder aber auch, um zu gewährleisten, damit die Patienten ihre Verpflichtungen gegenüber der Arbeitslosenversicherung erfüllen können, da diese nach 30 Krankheitstagen ihre Taggeldzahlungen einstellt. Dies geschieht natürlich nur, wenn die Person als effektiv 100% arbeitsfähig beurteilt wird.
Zur Vereinheitlichung der Praxis möchten wir mögliche rechtliche Konflikte, insbesondere beim Arbeitsrecht, der Haftpflicht, der Krankenkasse und der Arbeitslosenversicherung klären.
Ich persönlich unterstütze eine 100% Arbeitsfähigkeit von Patienten, wenn es aus ärztlicher Sicht indiziert ist. Der Tag hat 24h. 8h davon betreffen die Arbeit. Patienten sind nicht nur stationär, weil Sie 100% arbeitsunfähig sind, sondern zum Teil auch, weil sie im privaten Bereich, daher bei den restlichen 16h zu Hause nicht mehr "funktionieren" können. Im geschützten Umfeld der Klinik können gewisse Patienten aus meiner Sicht ihre volle Leistungsfähigkeit bei der Arbeit erzielen.
Einschränkungen in Bezug auf die Arbeitssicherheit müssen natürlich kritisch durch die Ärzteschaft beurteilt werden. So dürfen beispielsweise Patienten während dem Aufenthalt nicht Autofahren, ausser Sie stellen ein Gesuch zur Fahreignung. Unter Einfluss von Benzodiazepinen oder anderen starken Medikamenten wird die Eignung nicht ausgestellt.
Nun meine Fragestellung:
Spricht aus Sicht des Arbeitsrechtes und der Haftpflicht im Grundsatz etwas gegen eine 100% Arbeitsfähigkeit von Patienten während eines stationären Aufenthaltes in der Psychiatrie?
(-> Wo gibt es mögliche Konfliktpunkte gegenüber der Arbeitslosenversicherung und der Krankenksse?) -> Soll ich diese Fragestellung im Forum der Sozialversicherungen stellen?
Für Ihre Beurteilung unserer unterschiedlichen Praxis bei der Krankschreibung bedanke ich mich bei Ihnen im Voraus sehr.
Freundliche Grüsse
Philippe Meier
Frage beantwortet am
Kurt Pärli
Expert*in Arbeitsrecht
Sehr geehrter Herr Meier
Gerne beantworte ich Ihre interessante Fragestellung.
Ein Arbeitnehmer hat gestützt auf Art. 324a OR Anspruch auf Lohnfortzahlung, wenn ihm u.a. wegen einer Krankheit nicht zugemutet werden kann, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Die Lohnfortzahlungspflicht der Arbeitgeberin ist zeitlich beschränkt auf drei Wochen im ersten Dienstjahr, danach auf eine angemessene längere Zeit (gemäss den Berner, Zürcher und Basler-Skalen). Das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit ist durch den Arbeitnehmer zu beweisen, wofür in erster Linie Arztzeugnisse in Frage kommen. Das Arztzeugnis muss sich nur zur Frage der Arbeitsfähigkeit/-unfähigkeit äussern, Diagnosen sind nicht erforderlich.
Soweit eine Krankentaggeldversicherung Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit erbringen muss, ist die Ausgangslage vergleichbar, das Arztzeugnis muss diesfalls der Krankentaggeldversicherung eingereicht werden.
Im einen wie im anderen Fall können die Arbeitgeberin bzw. die Krankentaggeldversicherung ein Arztzeugnis des Arztes des Arbeitsnehmers anzweifeln und eine vertrauensärztliche Abklärung verlangen.
Soweit die Ihnen vermutliche ohnehin bekannt Ausgangslage. Nun stellen sich im Zusammenhang mit der Krankschreibung und Aufenthalt ein paar spezifische Probleme. Zum einen erfordert die ärztliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit/unfähigkeit selbstverständlich die gebotene Sorgfalt, der Arzt/die Ärztin muss genau wissen, welche Anforderungen die Arbeit des Patienten stellt und ob aufgrund der psychiatrischen Erkrankung bzw. Medikation irgendwelche Einschränkungen bestehen. Die gleiche Erkrankung kann je nach Art der Arbeitsstelle zu einer Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsfähigkeit führen.
Gleichzeitig stellt sich aber je nach Situation das Problem, dass ein zu ausführliches Arztzeugnis Hinweise auf die Erkrankung liefern könnte, was wiederum eine Gefährdung der Stelle nach sich ziehen könnte. Hier ist erforderlich, mit dem Patienten genau abzuklären, ob die Arbeitgeberin über den Klinikaufenthalt informiert ist oder nicht. Wie bereits erwähnt, die Arbeitgeberin hat keinen Anspruch darauf, die Diagnose zu erfahren. Je nach Umständen kann es aber sinnvoll sein, wenn Patienten ihre Arbeitgeber über die Problematik informieren, damit der Arbeitgeber dann auch seine Fürsorgepflicht entsprechend wahrnehmen kann. Falls der Patient aber nicht will, dass die Arbeitgeberin über den Klinikaufenthalt informiert wird, ist dies bei der Ausstellung der Arztzeugnisse zu beachten, d.h., allenfalls ist in einer solchen Situation das Arbeitsunfähigkeitszeugnis besser vom Hausarzt und nicht vom Klinikarzt auszustellen.
Anders verhält es sich, wenn die Versicherung oder die Arbeitgeberin über ihren Vertrauensarzt mehr Informationen über den Patienten in Erfahrung bringen will. Hier ist der Patient verpflichtet, die entsprechende Einwilligung für den Informationsfluss zu erteilen. Der Vertrauensarzt der Versicherung oder des Arbeitsgebers wieder darf der Arbeitgeberin nur die Information „Arbeitsfähig/beschränkt arbeitsfähig/nicht arbeitsfähig“ erteilen. So werden die Persönlichkeitsschutzinteressen des Patienten gewahrt.
Soweit eine erste Einschätzung zur Ihrer Fragestellung. Angesichts der Brisanz und Komplexität der Thematik empfehle ich Ihnen, diese Fragen mit den Fachgesellschaften der Psychiatrie und Arbeitsmedizin zu erörtern. Falls gewünscht, kann ich hierzu aus juristischer Sicht gerne etwas beitragen (vertiefter als die Ausführungen in diesem Forumsbeitrag).
Genügen Ihnen diese Auskünfte für’s Erste?
Mit Dank für die Kenntnisnahme und freundlichen Grüssen
Kurt Pärli
Sehr geehrter Herr Pärli,
Vielen Dank für Ihre Antwort.
Wenn ich ihre erste Einschätzung richtig verstehe, muss die Arbeitsfähigkeit eines Patienten individuell in Bezug auf sein konkretes Stellenprofil beurteilt werden. Die Arbeitsfähigkeit kann von jedem Kostenträger angezweifelt werden. Dies tut er, indem er eine Zweitmeinung bei einem vertrauensärztlichen Dienst veranlasst und einfordert.
Was ich aus Ihrer Antwort nicht herauslesen kann und was mich am brennendsten interessiert ist, ob die ärztliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im Grundsatz UNABHÄNGIG vom "Status" des stationären Aufenthaltes beurteilt werden darf? Oder anders gefragt: Ist eine 100% Arbeitsfähigkeit während eines psychiatrischen Klinikaufenthaltes aus rechtlicher Sicht grundsätzlich zulässig, wenn es aus ärztlicher Sicht (unter Berücksichtigung der individuellen Anforderungen am Arbeitsplatz / der aktuellen Medikamenteneinnahme etc), keine Einwände gegen einen Arbeitseinsatz von der Klinik aus gibt?
Spezifische Anschlussfrage für die Arbeitslosenkasse: Ist auch dort eine 100% Arbeitsfähigkeit bei stationärem Aufenthalt möglich? Dort gibt es ja keine spezifischen Stellenanforderungen, die beurteilt werden könnten, ausser etwa im Rahmen des Stellensuchprofils des Patienten (Wäre das eine Frage für das Forum Sozialversicherungen?)
Welche Fachgesellschaften der Psychiatrie oder Arbeitsmediziner meinen Sie? Aus Sicht der Klinik kann eine 100% Arbeitsfähigkeit problemlos attestiert werden. Diese Frage habe ich intern geklärt….die Frage ist mehr, ob eine volle Arbeitsfähigkeit aus Sicht des Arbeitsrechtes, der Haftpflicht und der Arbeitslosenversicherung einen Konflikt verursacht bzw. als unzulässig beurteilt werden müsste?
Für ihr Angebot, ausserhalb des Forums aus juristischer Sicht etwas beizutragen, danke ich Ihnen sehr. Mir ist nun nicht ganz klar wie ich dafür vorgehen soll…
Tut mir Leid wenn ich so viele Anschlussfragen aufwerfe.
Herzlichen Dank schon Mal im Voraus und freundliche Grüsse.
Philippe Meier
058 856 44 51
Frage beantwortet am
Kurt Pärli
Expert*in Arbeitsrecht
Sehr geehrter Herr Meier
Für die Beurteiung der Arbeitsfähigkeit spielt der konkrete Aufenthalts- bzw. Wohnort einer Person an sich keine Rolle. Wenn also die Diagnose und der Zustand eines Patienten einer 100igen Arbeitsfähigkeit nicht im Wege steht, insbesondere weder für die betroffene Person selbst noch für die Arbeitgeberin, Kunden/innen, Arbeitskollegen/innen usw. irgendwelche vorhersehbaren auf der Diagnose basierende Risiken bestehen, dann ist die Attestierung der 100igen Arbeitsfähigkeit zulässig.
Bezüglich der Arbeitslosenversicherung betrifft die Frage die Vermittlungsfähigkeit. Wenn z.B. ein Patient aufgrund seiner Diagnose nur für sehr wenige Tätigkeiten 100% arbeitsfähig ist und es solche Stellen zudem kaum gibt, ware die Vermittlungsfähigkeit eingeschränkt. Ist indes aufgrund der Diagnose ein breiten Feld an Tätigkeiten möglich, besteht die Vermittlungsfähigkeit.
Zur Schweiz. Gesellschaft für Arbeitsmedizin siehe hier: https://sgarm.ch/wordpress/
Diese Antworten sind allesamt nur summarisch. Die durch Sie aufgeworfenen Fragen bedürften einer vertieften juristischen Klärung, die im Rahmen des Forums nicht geleistet warden kann. Eine vertiefte Abklärung könnte im Rahmen eines Gutachtens geleistet warden.
Genügen IHnen diese ergänzenden Auskünfte?
Mit Dank für die Kenntnisnahme und freundlichen Grüssen
KUrt Pärli
Guten Tag Herr Pärli,
Vielen Dank für Ihre wichtigen ergänzenden Hinweise. Für mich ist damit die Frage "summarisch" beantwortet. Ich bin gespannt, was diese Erkenntnis intern für Veränderungen zur Folge werden wird und welche zusätzlichen Abklärungen noch vorgenommen werden.
Beste Grüsse
Philippe Meier