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Jenische, Sinti und Roma - Minderheiten in der Schweiz

Juli 2017 / Martin Heinger und Regine Strub

Die Minderheiten der Jenischen, Sinti und Roma gehören seit eh und je zur Schweiz. Trotzdem ist ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit von Vorurteilen und Unwissen geprägt. Im folgenden Dossier haben wir Informationen und Links zu verschiedenen Aspekten für Sie zusammengestellt.

Seit 1998 hat die Schweiz das Übereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten ratifiziert und sich dazu bekannt, die Kultur und die Identität der Jenischen und Sinti in der Schweiz zu schützen und mit geeigneten Mitteln zu fördern. Ein weiterer symbolischer Schritt wurde getan, als Bundesrat Alain Berset Im September 2016 in einer Rede anlässlich der Fekkerchilbi in Bern zum ersten Mal die Organisatoren explizit mit "Jenische" und "Sinti" begrüsste und sich dafür aussprach, dass diese in Zukunft von offizieller Seite nicht mehr mit dem Sammelbegriff "Fahrende" angesprochen werden sollen. Am 21. Dezember 2016 hat der Bundesrat zudem einen Aktionsplan verabschiedet, der einzelne Massnahmen aufführt, wie die Kultur der Jenischen und Sinti konkret gefördert werden soll. Dies sind einerseits die Förderung von Projekten zugunsten der Sprache und Kultur der Jenischen und Sinti sowie die Schaffung von Stand- und Übergangsplätzen, die allerdings nur in enger Zusammenarbeit mit den Kantonen geschaffen werden können.

Etwas anders sieht es zurzeit noch bei den Roma aus. Obwohl rund 80‘000 Roma seit Jahren und Generationen in der Schweiz leben, blieb eine offizielle Anerkennung als nationale Minderheit bis heute aus. Das soll sich ändern, Roma-Organisationen haben im Jahr 2015 ebenfalls einen Antrag gestellt, dass die Schweiz sie als Minderheit anerkennt. Trotz ausstehender formeller Anerkennung sind die Roma im Ende 2016 vom Bundesrat verabschiedeten „Aktionsplan Jenische, Sinti, Roma“ erwähnt und zum Teil mitgemeint.

Die Lebenssituation von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz

Die schweizerische Gesellschaft für bedrohte Völker in der Schweiz schreibt in ihrem Schattenbericht zum „vierten Bericht der Schweiz zur Umsetzung des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten" aus dem Jahr 2017, dass rund 35'000 Jenische in der Schweiz leben, wovon zwischen 2000 – 3000 fahrend unterwegs seien. Weiter führt sie in der Tabelle 80'000 Roma sowie 400-500 Sinti auf, wobei die meisten sesshaft seien. Trotz offizieller Anerkennung als nationale Minderheiten sind auch heute noch Jenische, Sinti und Roma nicht vor Diskriminierung und Rassismus seitens der Bevölkerung und der Behörden verschont, schreibt die Gesellschaft für bedrohte Völker in ihrem Schattenbericht. 

Daneben gibt es auch fahrende Gruppierungen aus dem angrenzenden Ausland, die sich zeitweise in der Schweiz aufhalten. Nebst ausländischen Jenischen gehören dazu Angehörige der Roma oder der Sinti.

Schattenbericht der Gesellschaft für bedrohte Völker zum vierten Bericht der Schweiz zur Umsetzung des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten.

Der Bericht kritisiert, dass Jenische, Sinti und Roma in der Polizeiarbeit diskriminiert würden, weil in der Polizeiarbeit häufig ein racial profiling anwendet werde, auch in der Medienberichterstattung würden diese Gruppen häufig pauschalisierend und einseitig dargestellt und die Betroffenen kämen selten selber zu Wort. Weiter kritisiert der Bericht, dass die Anzahl der Stand- und Durchgangsplätze in den letzten 15 Jahren stetig abgenommen habe und es den fahrenden Gruppierungen erschwere, ihre Kultur zu leben und weiter zu entwickeln. In politischen Gremien würden Jenische, Sinti und Roma noch zuwenig einbezogen. Zudem werde die Geschichte und die Kultur dieser Bevölkerungsgruppen an den Schulen zu wenig vermittelt.

Dossier Jenische (1926-1973 ff.)

Die schweizerische Minderheit der Fahrenden wird Jenische genannt. Ihre Geschichte ist im 20. Jahrhundert überschattet von einem Versuch der Sesshaften, wenn nicht in jedem Fall sie selber, dann doch die jenische Identität zu zerstören. Im Zentrum dieses Versuchs stand zwischen 1926 und 1973 das «Hilfswerk für die ‘Kinder der Landstrasse’», eine Abteilung des Kinderhilfswerks Pro Juventute. Mit staatlicher Unterstützung – involviert waren Bund, Kantone und Gemeinden – wurden jenische Kinder weggenommen, fremdplatziert und umerzogen. Im Rahmen der staatlichen «Administrativjustiz» wurden zudem die jenischen Erwachsenen durch Internierung und Unfruchtbarmachung gehindert, sich fortzupflanzen. 

Zigeunerhäuptling

Vom Kind der Landstrasse zum Sprecher der Fahrenden - Das Schicksal des Robert Huber

Der heute 76-jährige Robert Huber wuchs als Verdingkind auf und landete in einer Strafanstalt unter Kriminellen. Er war ein Opfer der "Aktion Kinder der Landstrasse", wie eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte bezeichnet wird. Von 1926 bis 1972 entriss die Stiftung Pro Juventute Hunderte Kinder ihren Eltern, um sie der Kultur der Fahrenden zu entfremden. Robert Huber ging daran nicht zugrunde. Im Gegenteil: Er fand schrittweise den Weg zurück zu seinen Wurzeln. Er lehnte sich gegen die Unterdrückung der Kultur der Fahrenden auf und setzte sich als Präsident der "Radgenossenschaft der Landstrasse" für ihre Rechte ein. Unter seinem Vorsitz fanden wichtige Ereignisse statt wie die Entschuldigung des Bundesrats für die Zwangsbevormundungen und die Anerkennung der Fahrenden als nationale Minderheit. Seine Lebensgeschichte steht stellvertretend für die Geschichte der Jenischen und ihres erwachenden Selbstbewusstseins in der Schweiz. Es ist eine Erfolgsgeschichte.

Jenische:

„Als Jenische bezeichnen sich in Europa lebende Angehörige beziehungsweise Nachfahren von meist ursprünglich fahrenden Bevölkerungsgruppen. Wesentliches gemeinsames Merkmal ist die Sprache. Seit 1997 wird das Jenische in der Schweiz als territorial nicht gebundene Sprache geschützt und gefördert. Linguistisch handelt es sich um einen Soziolekt, der auf der Sprache der Mehrheitsgesellschaft beruht, mit Wörtern aus dem Romanés, Jiddischen und Rotwelsch durchsetzt ist und über eigenes Wortgut verfügt, das teilweise Eingang in die Dialekte gefunden hat.“ (Website Stiftung Schweizer Fahrende)

Roma, Sinti, Manouches:

"Als Roma werden in der Regel diejenigen Bevölkerungsgruppen bezeichnet, welche seit dem fünften Jahrhundert aus dem nordöstlichen Indien durch Kriege vertrieben worden oder aus wirtschaftlichen Gründen ausgewandert sind und die eine auf dem Sanskrit und Pakrit beruhende Sprache Romani beziehungsweise dem walachisch geprägten Dialekt Romanés sprechen. Roma leben heute auf allen Kontinenten, besonders zahlreich und überwiegend sesshaft sind sie in Osteuropa und im Balkan. Gruppen in Mitteleuropa, welche ihre Sprache stark den jeweiligen Landessprachen angepasst haben, bezeichnen sich als Sinti oder Manusch. Sie teilen sich wiederum in zahlreiche Untergruppierungen auf, welche sich an der beruflichen Tätigkeit, am örtlichen Aufenthalt, an der sprachlichen Entwicklung oder Sippenzugehörigkeit orientieren.

Viele Roma aus Jugoslawien kamen seit den 1960er Jahren als Gastarbeiter und in den 1990er Jahren infolge der Jugoslawienkriege auch als Flüchtlinge in die Schweiz. Noch im Zweiten Weltkrieg waren Roma an der Grenze abgewiesen worden. Nach Schätzungen der Rroma Foundation leben heute rund 50’000 bis 80'000 Roma in der Schweiz." (Website Stiftung Schweizer Fahrende)

Auf der Seite der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) finden sich ebenfalls verschiedene Begriffsdefinitionen und Erklärungen zu den verschiedenen Gruppen und zu ihrer Sprache.

Stand- und Durchgangsplätze: langwierige Suche und Widerstand aus den Gemeinden

Um die Kultur und Lebensweise der Jenischen und Sinti zu fördern, bräuchte es unter anderem eine hinreichende Anzahl von Stand- und Durchgangsplätzen. "Konkret sind Fahrende, vor allem Schweizer Jenische, auf ein engmaschiges Netz an Plätzen angewiesen, weil sie auf der Suche nach Kundschaft von Ort zu Ort reisen" (Thomas Huonker im Bund 2014). Doch die vorhandenen Plätze reichen nicht aus und die Schaffung neuer Plätze für Fahrende sorgt in den Gemeinden und Kantonen immer wieder für Diskussionen. In den vergangenen Jahrzehnten sind sukzessive Plätze verschwunden bzw. anderweitigen Nutzungen zugeführt worden. Laut einem Bundesgerichtsurteil sind die Gemeinden zwar zur Schaffung geeigneter Plätze verpflichtet, oft fehlt es jedoch am politischen Willen und der Bereitschaft der lokalen Bevölkerung, fahrende Gruppen zu tolerieren.

EDI

Aktionsplan Jenische, Sinti, Roma: Bundesrat bestätigt die Stossrichtung

Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 21. Dezember 2016 von den Zwischenergebnissen der Arbeit am Aktionsplan «Jenische, Sinti, Roma» Kenntnis genommen. Er hat die Stossrichtung bestätigt und das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) beauftragt, für Bereiche, die in die Zuständigkeit der Kantone fallen, die Konsultationen mit den entsprechenden interkantonalen Konferenzen fortzuführen. 

Das Schweizer Parlament

Interpellation Stand- und Durchgangsplätze für Schweizer Fahrende. Dringender Handlungsbedarf

Die Situation bezüglich Stand- und Durchgangsplätze in der Schweiz ist blockiert. Mit welchen Massnahmen will der Bund den Verpflichtungen aus der Verfassung und internationalen Abkommen nachkommen und sicherstellen, dass den Fahrenden und insbesondere den Schweizer Jenischen genügend Stand- und Durchgangsplätze zur Verfügung stehen? Welchen der möglichen Massnahmen gibt der Bund den Vorzug?

Historische Aufarbeitung der Marginalisierung von Jenischen, Sinti und Roma

Die Jenischen, Sinti und Roma blicken auf eine lange Geschichte der Ausgrenzung und Benachteiligung zurück. Im 20. Jh. wurden sie von den Nationalsozialisten in Deutschland verfolgt. In der Schweiz erreichten die Feindseligkeiten mit den Kindswegnahmen der Aktion "Kinder der Landstrasse" zwischen 1926 und 1972 einen traurigen Höhepunkt. Mit dem Ziel, die Kinder der Fahrenden sesshaft zu machen und die „Vagantität“ zu bekämpfen, entriss die Stiftung Pro Juventute mit Hilfe der Behörden systematisch hunderte von Kindern ihren Familien und platzierte sie in Heimen und Pflegefamilien.

Nach einer breiten öffentlichen Debatte zum Heimwesen und auf Druck der Medien – eine wichtige Rolle spielte der „Schweizerische Beobachter“- wurde das Programm 1973 endgültig eingestellt. Es kam eine Aufarbeitung der Geschichte in Gange und Betroffene gründeten unter anderem Organisationen wie die „Radgenossenschaft der Landstrasse“ oder die „Naschet-Jenische“.

Kindswegnahmen. Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge

Das aufschlussreiche und umfassende Buch aus dem Jahr 2016 ist eine Studie und hat einen wissenschaftlichen Anspruch. Die Autorin geht zum Beispiel auf die institutionellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen ein, welche die Kindswegnahmen ermöglichten. Sie gibt aber auch einen Einblick in die Biographie von Alfred Siegfried, der während langer Zeit die Aktion Kinder der Landstrasse prägte.Sie zeigt aber auch die Grenzen der Aktion auf, weil sich Eltern gegen die Massnahmen wehrten. Im letzten Kapitel geht sie auf die Rolle der Psychiatrie in der Fürsorgepraxis ein.

Südostschweiz.ch

Südostschweiz.ch: «Familie Zero» – Die Anfänge der Psychiatrie in Graubünden

Der Artikel gibt einen sehr guten Einblick in die Entstehungsgeschichte der Psychiatrie und insbesondere in das Wirken des ersten Klinikdirektors und Psychiaters Johann Joseph Jörger in der Waldhausklinik im Kanton Graubünden. Johann Joseph Jörger‘s eugenische Thesen zu „vagantischen Familien“ sollten später von den Nationalsozialisten aufgenommen und weiterverfolgt werden. Sie führten dazu, dass Jenische und Fahrende eingeschlossen, verwahrt, sterilisiert oder kastriert wurden. Und nicht zuletzt lieferten sie die Begründung für das Vorgehen der Aktion „Kinder der Landstrasse“ bei der fast 600 Kinder ihren Familien entrissen wurden. Der Artikel als pdf- 1. Seite- 2. Seite

Die Situation der Roma

Über die Situation der Roma in der Schweiz ist noch wenig bekannt. Die Angehörigen dieser transnationalen Minderheit sind nicht statistisch erfasst und es existieren nur wenige Studien. Die Gesellschaft für bedrohte Völker geht in ihrem Schattenbericht jedoch von rund 80‘000 Roma in der Schweiz aus. Lange wurden unter dem Begriff „Zigeuner“ verschiedene Gruppen subsumiert, verfolgt und diskriminiert. Die Schweiz verbot den „Zigeunern“ von 1418 bis 1972 die Einreise. Erst in den 1960/70er Jahren wanderte eine grössere Zahl von Roma als Gastarbeiter in die Schweiz ein. Eine weitere grössere Gruppe gelangte in den 90er Jahren wegen des Jugoslawien-Krieges in die Schweiz.  

Interessante Film- und Medienbeiträge

Im Folgenden haben wir interessante Medien- und Filmbeiträge zur Kultur von Jenischen, Sinti und Roma aufgeführt 


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