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Trends aufgreifen und den Sozialbereich gezielt weiterentwickeln

März 2024

Das Kooperationsprojekt «Zürich Sozial» des Kantonalen Sozialamtes und der ZHAW schafft Grundlagenwissen über Trends und Entwicklungen im Sozialbereich, vernetzt Akteur*innen und verschafft drängenden Problemen mehr Sichtbarkeit. Damit wollen die Verantwortlichen Impulse für die Weiterentwicklung sozialer Organisationen und Angebote setzen.

Mit «Zürich Sozial» hat das Departement Soziale Arbeit der ZHAW eine Plattform entwickelt, die dem Sozialwesen des Kantons Zürich wichtige und konkrete Impulse liefern wird. Das Projekt in Kooperation mit dem Kantonalen Sozialamt Zürich (KSA) soll künftig Trends im Sozialbereich besser sichtbar machen und aufzeigen, wo Handlungs- und Entwicklungsbedarf besteht. Der Aufbau einer Wissensbasis steht dabei genauso im Zentrum wie die Netzwerkbildung innerhalb des Sozialbereichs, und auch darüber hinaus. 

Das Interesse an Trends, an der Weiterentwicklung und an der Vernetzung von Akteur*innen im Sozialbereich sind Themen, die auch Sozialinfo bewegen, weshalb sich eine Gelegenheit zur Zusammenarbeit anbietet. Sozialinfo ist künftig Mitglied der Resonanzgruppe des Projekts. Zudem beteiligt sich Sozialinfo an der Publikation von Ergebnissen und am geplanten Reallabor.  

Im Gespräch mit Fiona Gisler, Co-Projektleiterin, erfahren wir mehr über die Hintergründe des Projektes. Uns interessiert dabei besonders, wie die gewonnenen Erkenntnisse Wirkung bei der Gestaltung sozialer Angebote erzielen können und wie der Transfer in die sozialarbeiterische Praxis gelingt. 

Wir wollen für soziale Organisationen und Akteur*innen eine Wissensgrundlage für strategische Entscheide schaffen.

Fiona Gisler

Von der «Infostelle» zu «Zürich Sozial»

Seit den 1970-er-Jahren ist die «Infostelle» ein wichtiges Hilfsmittel für die Fachpersonen im Zürcher Sozialwesen. Im Auftrag des Kantonalen Sozialamtes (KSA) pflegt die ZHAW das Adress- und Stiftungsverzeichnis, unterdessen als Online-Angebot. Die notwendige Erneuerung der Website nahmen das KSA und das Departement Soziale Arbeit der ZHAW zum Anlass, in einem Kooperationsprojekt das Angebot neu zu denken.

Martin Heiniger / Sozialinfo: Was ist im Kooperationsprojekt «Zürich Sozial» neu entstanden? 

Fiona Gisler / ZHAW: Der Projektauftrag von «Zürich Sozial» besteht darin, aktuelle Themen der Sozialen Arbeit systematisch zu erheben und zukünftige Entwicklungen besser einzuschätzen. Um uns vorzubereiten, haben wir letztes Jahr eine Trend-Umfrage durchgeführt. In Kombination mit einer Literaturrecherche erfassten wir so die gegenwärtige Ausgangslage. Daraus entwickelten wir den «Trend-Monitor», um zukünftig jährlich Trends gemeinsam mit den Fachleuten digital zu erheben, zu bewerten und zu diskutieren. Damit wollen wir für soziale Organisationen und Akteur*innen eine Wissensgrundlage für strategische Entscheide schaffen. 

Welches sind die wichtigsten Ergebnisse aus der ersten Erhebung? 

Eine wichtige Erkenntnis für uns war, dass sich die von uns vorgeschlagenen sechs übergeordneten Trendbereiche sowohl quantitativ als auch qualitativ bestätigt haben. Bei der freien Trend-Eingabe demonstrieren die ca. 780 Beiträge eindrücklich die ganze Vielfalt, Komplexität und Relevanz des Sozialbereichs. Erste Resultate dieser Umfrage sind auf der Plattform «Zürich Sozial» aufgeschaltet. Weitere Ergebnisse werden laufend dazukommen. 

Sechs Trendbereiche

Als Grundlage zur ersten Trend-Umfrage dienten sechs übergeordnete Trendbereiche: 

  1. Sich verschärfende soziale Ungleichheit 

  2. Akuter Fachkräftemangel 

  3. Beschleunigte Digitalisierung und technologischer Wandel 

  4. Zunehmende Herausforderungen im Migrations- und Asylwesen 

  5. Zunehmende Unsicherheit in Bezug auf politische, rechtliche oder individuelle Rahmenbedingungen 

  6. Anstehende Umgestaltungen von Angeboten zu mehr Selbstbestimmung und Klient*innenorientierung 

Resultate aus der Trend-Umfrage 

Gibt es Resultate, die euch überrascht haben? 

Die Dringlichkeit der Wohnungsnot und der hohen Wohnkosten hat uns erschreckt. Auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum konkurrenzieren sich verschiedene Gruppierungen wie Senior*innen, Armutsbetroffene und Asylsuchende gegenseitig. Das ist für Sozialarbeitende in den entsprechenden Handlungsfeldern eine grosse Herausforderung. Eine weitere Entwicklung ist, dass die Fälle deutlich komplexer geworden sind und individueller bearbeitet werden müssen, um überhaupt eine Passung zwischen Situation und Intervention zu erreichen. 

Auf diese erste Umfrage soll ein regelmässiger Trend-Monitor folgen. Wie ist dieses Format gestaltet und was versprecht ihr euch davon?  

Mit dem Trend-Monitor starten wir am 02.04.2024 in einen jährlichen Zyklus. In diesem Online-Tool beurteilen Teilnehmende mit einem Regler, wie drängend vorgeschlagene Trends für den eigenen Bereich sind. Zudem können sie Trends selbst formulieren. Da die Eingabe anonymisiert anhand individueller Pseudonyme geschieht, können die Teilnehmenden auch heikle Themen einbringen. Die Software bietet verschiedene Austauschmöglichkeiten und regt den Fachdiskurs an, indem andere Teilnehmende auf eine Eingabe reagieren und eigene Erfahrungen oder Lösungsansätze beschreiben können. 

Das Ganze steht und fällt mit den Menschen, die sich einbringen.

Fiona Gisler

Wie erreicht ihr, dass Fachpersonen der Sozialen Arbeit diese Möglichkeiten tatsächlich nutzen? 

Das Ganze steht und fällt mit den Menschen, die sich einbringen. In den Fokusgruppen zur vorgelagerten Trend-Umfrage wurde klar, dass sich die Beteiligten sehr wünschen, über den Tellerrand schauen zu können. Das heisst auch über die eigenen Communities hinaus in einen Diskurs zu kommen und Synergien zu schaffen, um den Anliegen mehr Gewicht zu verleihen. Im Trend-Monitor können sie sich ohne grossen Aufwand beteiligen. Insofern sind wir zuversichtlich. 

Was geschieht mit den gewonnenen Erkenntnissen über das Monitoring hinaus? 

Die brennendsten Themen, die sich im Trend-Monitor zeigen, werden wir im Format der «Trend-Spotlights» aufnehmen und vertiefen. Die Form folgt dabei ganz dem Bedarf. Das kann z.B. ein Dossier sein, ein Expert*innenchat oder ein Videobeitrag. Durch die Vertiefung ausgesuchter Trends kann neben dem Wissenszuwachs die öffentliche Sichtbarkeit erhöht und ein gewisses Agenda-Setting betrieben werden.  

Ihr plant auch, sogenannte «Reallabore» zu organisieren. Was hat es damit auf sich? 

«Reallabor» bezeichnet eine transdisziplinäre Herangehensweise, die Raum für Austausch, Innovation und Vernetzung bietet. In unserem Fall werden wir gezielt jeweils passende Praxisorganisationen, kantonale und kommunale Behörden sowie die ZHAW an einen Tisch bringen, um ausgewählte Brennpunkte aus dem Trend-Monitor explorativ zu diskutieren und neue Handlungsansätze für den Schritt hin zu konkreten Massnahmen auszuloten. 

Dies wäre also die Ebene, wo Innovation und damit auch ein Impact stattfinden können? 

Ja, weil da auch diejenigen Akteur*innen einbezogen werden, die Entscheidungskompetenzen haben. Dabei sind die Beteiligten jeweils einen halben Tag physisch vor Ort, sodass die versammelte Intelligenz genutzt werden kann. Abgesehen davon leitet die ZHAW aus den Resultaten ab, welche Nachfragen im Sozialbereich bestehen, beispielsweise an spezifischen Weiterbildungsangeboten. 

Wer macht das Agenda-Setting für die Reallabore? 

Das machen wir, auf Grundlage des vorhergehenden Trend-Monitors. Wir werden bedarfsorientiert entscheiden, was wir in die Trend-Spotlights und weiter ins Reallabor aufnehmen. Wir haben keine «Hidden Agenda», sondern orientieren uns daran, wo wir mit diesen Formaten einen sinnvollen Beitrag leisten können. Ein Fokus wird möglicherweise die strategische Sozialplanung sein. Davon könnten vor allem kleinere Organisationen profitieren, die es sich nicht leisten können, Mandate zur angewandten Forschung, wie etwa Bedarfserhebungen, zu vergeben.  

Wir haben eine Chance zur Weiterentwicklung des Sozialbereichs erhalten und können unsere wissenschaftliche und methodische Expertise einbringen.

Fiona Gisler

Angenommen es zeigt sich, dass es ein neues Angebot oder eine neue Organisation braucht: Ist dann ein Weg vorgezeichnet, wie das realisiert werden kann? 

Dazu gibt es noch keine konkreten Szenarien, aber das KSA zeigt sich sehr interessiert an den Resultaten, weil sie dadurch Hinweise erhalten, wo sie ihre Ressourcen effizient einsetzen können. Zudem können die Organisationen einen gewissen Druck erzeugen, wenn sie sich zusammenschliessen. Hierin liegt ein Wirkungspotenzial. Theoretisch ist der angestrebte Diskurs, der mehrfach durchlaufen wird, an das «Delphi-Verfahren» angelehnt. Dieses strebt eine Konsensfindung unter Expert*innen an, um die Relevanz und Wünschbarkeit künftiger Entwicklungen, gerade unter unsicheren Bedingungen, besser einschätzen zu können.  

Durch dieses Projekt ist offenbar ein Freiraum entstanden, der euch die Chance gab, eure Expertise und Ideen einzubringen und zu zeigen, was alles möglich wäre. 

Ja, wir haben vom KSA eine Chance zur Weiterentwicklung des Sozialbereichs erhalten. Wir schätzen es sehr, dass wir unsere wissenschaftliche und methodische Expertise ins Projekt einbringen können. Die Auftraggebenden und der Steuerungsausschuss sind gemischt (ZHAW und KSA). Zudem sind wir dabei, eine Resonanzgruppe aufzubauen, die wir breit aufstellen möchten. Unter anderem wird sich auch Sozialinfo daran beteiligen.

Was kann Sozialinfo zum Gelingen des Projekts beitragen? 

Wir sehen Sozialinfo als relevanten Player im Sozialbereich der Deutschschweiz. Vom einzigartigen Netzwerk, der Innovationskompetenz sowie der grossen Expertise der Sozialen Arbeit von Sozialinfo, etwa im Bereich der Digitalisierung, kann das Projekt profitieren.  

Euer Angebot richtet sich am Kanton Zürich aus. Sind eure Erkenntnisse verallgemeinerbar und für die ganze Schweiz von Interesse?  

Wir starten mit dem Projekt im Kanton Zürich und in Kooperation mit dem KSA, gehen jedoch davon aus, dass in der Schweiz die Trend-Themen des Sozialbereichs vielerorts ähnlich gelagert sind, abgesehen etwa von kantonsspezifischen rechtlichen oder behördlichen Vorgaben. Die wichtigsten Ergebnisse stellen wir auf der Plattform «Zürich Sozial» allen frei zur Verfügung. Mit den Trend-Spotlights und dem Reallabor haben wir zusätzlich die Möglichkeit, bedeutsame Erfahrungen aus anderen Kantonen systematisch einzuholen. Gleichzeitig erhöht die neue Zusammenarbeit mit Sozialinfo die Reichweite von «Zürich Sozial». 

Wäre es ein Problem für euch, wenn sich plötzlich Sozialarbeitende aus der ganzen Schweiz einbringen würden und die Begrenzung auf Zürich sprengen? 

Für die Software wäre das grundsätzlich kein Problem und für die übergreifenden Projektziele sogar ein Gewinn. Wir testen dies jedoch zuerst im Kanton Zürich. Gedanken, das Angebot zu einem späteren Zeitpunkt zu erweitern, sind bereits da. Wir können uns gut vorstellen, das Blickfeld auszuweiten oder ähnliche Projekte auf die Beine zu stellen. 

Ein Schlusswort? 

Es ist uns ein Herzensanliegen, mit Akteur*innen des Sozialbereichs ins Gespräch zu kommen. Wir hoffen wirklich, dass die Leute sich kurz Zeit nehmen. Wir geben unser Bestes, um den Anliegen Gewicht zu verleihen. Wir wollen anpacken und weitertreiben mit all unseren Mitteln, um damit einen Mehrwert für den Sozialbereich zu schaffen.  

FIONA GISLER

ZHAW Soziale Arbeit, Institut für Sozialmanagement
Co-Projektleiterin «Zürich Sozial»

https://www.zhaw.ch/de/sozialearbeit/zuerich-sozial/ 
fiona.gisler@zhaw.ch


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