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LGBTQ+ : Soziale Arbeit hat noch Entwicklungsbedarf

September 2023

Queere Menschen sind erhöhter Gefahr gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Als Menschenrechtsprofession ist die Soziale Arbeit verpflichtet, Anliegen und Bedürfnisse von benachteiligten Gruppen in ihrem Handeln besonders zu berücksichtigen. Die queere Community wünscht sich mehr Unterstützung durch die Soziale Arbeit.

Queere Menschen erleben in ihrem Alltag nach wie vor Vorurteile, Diskriminierung und Gewalt wie auch strukturelle Benachteiligungen. Entsprechend sind sie hohen Exklusionsrisiken ausgesetzt. Die Soziale Arbeit begegnet in all ihren Arbeitsfeldern queeren Personen und spielt eine wichtige Rolle bei der Wahrung ihrer Würde und dem Schutz ihrer Rechte. Jedoch gibt es bei der Sensibilisierung und beim Wissen um queere Themen bei Fachpersonen der Sozialen Arbeit nach wie vor Lücken.

Mit einer Fachtagung, die sich besonders an Fachpersonen der Schulsozialarbeit und der offenen Kinder- und Jugendarbeit richtet, möchten drei queere Organisationen dies ändern. Im Interview geben Joh von Felten (Milchjugend), Sandra Schäfer (du-bist-du) und Samson Rentsch (Pink Cross) Auskunft über die Hintergründe.


Martin Heiniger, Sozialinfo: Was hat sich aus eurer Sicht in den vergangenen 10-20 Jahren in Bezug auf den Themenkreis «queer» und LGBTQ+ verändert?

Joh von Felten: Auf der gesellschaftlichen Ebene sind Queer-Themen heute sichtbarer und präsenter. Mit dieser Sichtbarkeit steigt auch die Vulnerabilität. Sichtbarkeit bringt nur was, wenn die Sicherheit gewährleistet ist. Trotz Diskriminierungsschutz liegt da noch sehr viel Arbeit vor uns.

Samson Rentsch: Die rechtliche Situation hat sich vor allem für die lesbische und schwule Community verbessert, wie beispielsweise der erweiterte Diskriminierungsschutz und die Ehe für Alle. Aber strukturell hat sich teilweise noch nicht so viel verändert. So sind zwar einige schulische Lehrpersonen stärker für queere Themen sensibilisiert, jedoch sind entsprechende Information und Aufklärung in der Schule noch nicht systematisch angekommen. Unser Ziel ist, queere Themen in allen Lebensbereichen zu verankern.

Unser Ziel ist, queere Themen in allen Lebensbereichen zu verankern.

Samson Rentsch

Sandra Schäfer: Das kann ich bestätigen. Ich arbeite seit langem in der offenen Jugendarbeit und bin heute noch immer mit denselben Fragen von Jugendlichen konfrontiert wie vor 15 Jahren. Die Sichtbarkeit von queeren Menschen ist grösser geworden und somit «kennen» die meisten Menschen queere Personen. Da aber die Auseinandersetzung mit der Thematik noch nicht weit fortgeschritten ist, ist die Sicherheit, d.h. der Schutz vor Gewalt und Diskriminierung von queeren Menschen, nicht besser geworden.

Gewalt gab es ja schon früher, etwa gegenüber homosexuellen Menschen. Hat sich daran etwas geändert?

Joh von Felten: Durch die Sichtbarkeit und die Möglichkeit, überhaupt ein Coming Out haben zu können, passiert Gewalt expliziter, etwa in den Schulen, im Lehrbetrieb, im Studium oder im öffentlichen Raum. Hier muss man zudem zwischen lesbischen, bi oder schwulen Personen und trans Personen unterscheiden. Trans Personen waren früher überhaupt nicht sichtbar, und ihre Geschichte ist so gewaltvoll, dass heute wenige trans Personen über 35-40 Jahren noch leben, oder dann gar nicht erst ihr Coming-out haben konnten. Trans Personen sind heute an dem Punkt, an dem Schwule, Lesben und Bisexuelle vor 40 Jahren waren.

Samson Rentsch: In der öffentlichen Diskussion werden heute trans und nonbinäre Personen mit denselben Argumenten attackiert und blossgestellt, wie die Schwulen vor 30, 40 Jahren.

Sandra Schäfer: Die Exponiertheit wird durch Social Media zusätzlich vergrössert oder teilweise überhaupt erst möglich gemacht. Diese Sichtbarkeit ist einerseits hilfreich - gerade für junge Menschen sind entsprechende Vorbilder wichtig. Gleichzeitig gibt es aber die Hasskommentare, die das Gegenteil bewirken und Diskriminierung schüren.

Joh von Felten: Gewalt passiert auch nach wie vor in den Familien. Wir haben noch immer Jugendliche in der Milchjugend, die nach ihrem Coming-out daheim rausgeworfen werden. Dadurch haben Jugendliche unter Umständen grosse Mühe, mit ihrer Identität klarzukommen.

Die Gesellschaft ist daran, sich rund um den Themenkreis «queer» und LGBTQ+ neu positionieren, um die damit verbundenen Bedürfnisse und Lebensentwürfe zu integrieren. Ist die Soziale Arbeit besonders prädestiniert, um einen adäquaten Umgang mit dem Themenkreis rund um «queer» vorzuleben?

Sandra Schäfer: Unbedingt! Mit ihrem Selbstverständnis als Menschenrechtsprofession müsste sich die Soziale Arbeit definitiv für die Rechte und die Gleichstellung queerer Menschen einsetzen. In der Realität ist es leider oft noch nicht so. Meist sind es innerhalb von sozialen Organisationen einzelne Personen, die das Thema einbringen, oft aus eigener Betroffenheit. An denen hängt dann immer die ganze Verantwortung, was auch sehr belastend sein kann. Deshalb ist es wichtig, das Bewusstsein für queere Themen in Teams breiter abzustützen.

Mit ihrem Selbstverständnis als Menschenrechtsprofession müsste sich die Soziale Arbeit definitiv für die Rechte und die Gleichstellung queerer Menschen einsetzen.

Sandra Schäfer

Joh von Felten: Es gibt Unterschiede zwischen den Bereichen der Sozialen Arbeit. Im Soziokulturellen Bereich oder der Jugendarbeit ist mehr Bewusstsein für queere Themen vorhanden, während das in Bereichen wie der Sozialhilfe oder auch im sozialpädagogischen Kontext noch viel weniger institutionalisiert ist. Solche Organisationen kommen erst zu uns, wenn sie mit konkreten Fragen von Klient*innen konfrontiert sind. Dabei wären entsprechendes Wissen und Bewusstsein auch in diesen Bereichen sehr wichtig. Bei trans Personen ist etwa die Erwerbslosigkeit viel höher ist als bei cis Personen, dementsprechend sind mehr von ihnen auf Sozialhilfe angewiesen.

Samson Rentsch: LGBTIQ+ ist ein Querschnittsthema und die Wahrscheinlichkeit, dass man im sozialarbeiterischen Arbeitsalltag queeren Personen begegnet, ist gegen 100 Prozent. Der Erwerb entsprechender Kompetenzen sollte deshalb in der Ausbildung systematisch für alle verankert sein, und nicht nur als freiwilliges Blockangebot.

Was sind in Bezug auf Wissen, Kompetenzen, Einstellungen eure wichtigsten Anforderungen, die ihr an Fachpersonen der Sozialen Arbeit stellt?  

Joh von Felten: Diese Frage wird uns oft gestellt und wir haben uns auch in der Vorbereitung der Tagung Gedanken dazu gemacht. Oft wird ein Rezept oder Liste mit Punkten erwartet, die erfüllt werden müssen, aber das gibt es nicht. Natürlich ist Grundwissen relevant, man muss die wichtigsten Begriffe kennen. Und man sollte die Risikofaktoren kennen, denen queere Jugendliche ausgesetzt sind, etwa betreffend Diskriminierung, Gewalt, Suchtverhalten oder Suizidalität.

Ein wichtiger Teil der Haltung ist, die Jugendlichen nicht in Frage zu stellen.

Joh von Felten

Sandra Schäfer:  Dieses Grundlagenwissen kann man sich mit Google beschaffen und aneignen. Viel wichtiger ist aber die Haltung. Die Jugendlichen sind die Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelt, und als Mensch, der in der Sozialen Arbeit tätig ist, sollte man sich grundsätzlich für Lebensumstände und -realitäten Betroffener interessieren. Man sollte etwa verstehen, dass Intersektionalität bedeutet, aus verschiedenen Gründen diskriminiert zu werden, und das queer zu sein einer der Gründe ist.

Joh von Felten: Ein wichtiger Teil der Haltung ist auch, die Jugendlichen nicht in Frage zu stellen. Queere Jugendliche müssen mehr ausprobieren, um ihre Identität zu finden. Da ist es wichtig, dass die Fachpersonen eine akzeptierende Haltung haben, auch wenn es vielleicht bei ihnen selbst ambivalente Gefühle auslösen kann. Diese sollte die Fachperson mit sich selbst klären, und nicht auf die Jugendlichen projizieren. Die Jugendlichen wissen am besten selbst, was sie brauchen. Wenn Fachpersonen es schaffen, eine begleitende Haltung einzunehmen, statt zu be- oder verurteilen, ist schon viel getan.   

Samson Rentsch: Bei vielen anderen Themen ist es in der Sozialen Arbeit selbstverständlich, dass man die Ambivalenzen aushält, die die eigene Biographie und Geschichte betreffen. Aber wenn es um Geschlechtsidentität und queere Themen geht, dann wird das oft als verhandelbar wahrgenommen. Gerade dort müsste die professionelle Haltung greifen, und das beinhaltet auch, eigene innere Ambivalenzen auszuhalten. Auch deshalb ist die Verankerung in der Ausbildung wichtig.

Was sind die spezifischen Bedürfnisse von queeren Jugendlichen?

Samson Rentsch: Queere Jugendliche sind in ihren Bedürfnissen sehr individuell. Queer ist ein grosser Überbegriff: Jemand, der schwul ist und sein Coming-out hat, hat ganz andere Themen als Personen, die trans oder nonbinär sind. Mit dieser Ausdifferenzierung muss man sich auseinandersetzen. Deshalb würde ich lieber danach fragen, was Fachpersonen brauchen, um mit dieser Zielgruppe zu arbeiten und eine individuelle Begleitung anbieten zu können.

Sandra Schäfer: Queer-sein ist nicht gleich queer-sein, und jede jugendliche Person ist ja noch so viel mehr als nur queer. Wie alle Jugendlichen müssen sie Leistungen bringen in der Schule, vielleicht eine Lehrstelle finden und all das lernen, was alle Jugendlichen lernen müssen. Queer zu sein kommt zu all dem noch dazu und kann alles noch schwieriger machen. Deshalb benötigen Fachpersonen in erster Linie das Rüstzeug, damit sie ihre spezifischen Jugendlichen am besten begleiten können.

Ihr thematisiert in Eurer Fachtagung auch die spezifischen Stärken queerer Jugendlicher bzw. Menschen.

Sandra Schäfer: Das kann ich an meinem eigenen Beispiel erklären. Ich musste oder durfte mich relativ früh mit mir, meiner geschlechtlichen Identität, mit meiner romantischen und sexuellen Orientierung auseinandersetzen. Das war einerseits sehr schwierig, aber dadurch bin ich auf eine Art und Weise mit mir selbst in Kontakt gekommen, die Gleichaltrige damals nicht kannten. Was für sie selbstverständlich war, passte für mich nicht. Die Reflexionsfähigkeit, die Auseinandersetzung mit sich und die eigenen Bedürfnisse den Erwartungen der Gesellschaft entgegenzustellen, das ist eine Stärke, die queere Jugendliche und Menschen besonders entwickeln können – vorausgesetzt, man schafft es, das positiv zu bewältigen.

Was sollten Fachpersonen im Umgang mit älteren Klient*innen wissen?

Samson Rentsch: Altern ist generell ein wichtiges gesellschaftliches Thema der Sozialen Arbeit und queere Menschen dürfen in dabei nicht vergessen werden. Queer zu altern beschäftigt die ganze Community. Zum einen gab es lange kaum queere ältere Personen, die sichtbar waren und die für Jugendliche auch als Role-Model dienen konnten. Viele Transpersonen sind in der Vergangenheit nicht alt geworden, und aus der schwulen und bisexuellen Männerperspektive haben wir auch eine schwierige Geschichte, wo viele aufgrund von HIV und AIDS nicht alt geworden sind. Hier gibt es aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen mehr Sichtbarkeit. Gleichzeitig gibt es für queere Menschen noch wenig spezifische Angebote, in denen sie Unterstützung kriegen. Es gibt noch wenig Erfahrungen, wie es als queere Person in einem Altersheim ist, wie offen die Personen sind, die einen dort begleiten, wie auf allenfalls spezifische gesundheitliche Fragen eingegangen wird und so weiter. Auch in diesen Bereichen ist es wichtig, dass Fachpersonen die Grundlagen und Begriffe kennen. Hier macht die Organisation queerAltern eine wichtige Arbeit.

Joh von Felten: Am Donnerstag war die Eröffnung des queeren Grabfeldes in Zürich, ein safer Space, in dem queere Menschen trauern können. Wenn ich daran denke, dass demnächst ein queerer Lebensort für alte Menschen eröffnet wird, dann freue ich mich schon darüber, dass einiges an Veränderung im Gang ist.

Gibt es noch etwas, was noch gesagt werden sollte?

Sandra Schäfer: Wenn es um queere Themen geht, gibt es eine gewisse Schwere, weil man sich Gehör verschaffen muss, damit sich die Gesellschaft verändert. Es ist aber genauso wichtig zu sagen, dass queer zu sein auch unglaublich schön sein kann, und dass queere Leben erfüllend sind. Nur weil jemand queer ist, heisst das nicht, dass das Leben automatisch traurig ist. Schwierigkeiten sind zwar da, können aber bewältigt werden. Und wir dürfen jetzt Themen wie Familienformen, alt werden, die Wichtigkeit von Freund*innenschaften, etc. neu definieren und neu entdecken, da freue ich mich auch darauf!

Joh von Felten: Durch die Community merkt man auch, dass man nicht allein ist. Das ist sehr befreiend und stärkend.

Samson Rentsch: Mich freut auch, dass ich zu Communities, Kulturen, Kunst und Begegnungsorten Zugang habe, die ich sonst nicht hätte. Queere Kultur hat sich immer wehren müssen und hat dadurch auch viele  Momente von Widerstand hervorgebracht, die man auch in ihrer Geschichte feiern darf.

JOH VON FELTEN

Geschäftsstelle Milchjugend, Leitung Projekte

SANDRA SCHÄFER

Sozialpädagogin HF, CAS genderreflektierende offene Jugendarbeit
Fachgruppenmitglied du-bist-du

SAMSON RENTSCH

Leitung Regionalpolitik Pink Cross


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