Digitalisierung Fokusartikel

IT & Soziale Arbeit: Chancen für die Zusammenarbeit

August 2021

Ist von Digitalisierung im Sozialwesen die Rede, geraten rasch Hindernisse und Schwierigkeiten in den Fokus. Ein rein defizitorientierter Blick kann aber die Sicht auf die Möglichkeiten und Chancen verstellen.

Meistens wird dem Sozialwesen ein Rückstand in der digitalen Transformation attestiert. Dabei geraten schnell die Defizite und Schwierigkeiten ins Blickfeld. Seien es fehlende finanzielle oder personelle Ressourcen, technische oder organisatorische Potenziale in Organisationen und Verwaltung, die (noch) nicht ausgeschöpft werden oder die Frage, wie gut branchenspezifische Software-Lösungen das fachliche Handeln der Fachpersonen zu unterstützen vermögen.

Tatsächlich gibt es mehr als genug zu tun, um die digitalen Entwicklungen weiter zu fördern. Dabei sind alle Akteur*innen gefordert: Die Organisationen und Fachpersonen des Sozialwesens genauso, wie die Ausbildungs- und Forschungsinstitutionen und die Informatik-Unternehmen. Verbleibt man jedoch bei der Betrachtung der Defizite, besteht die Gefahr einer eingeschränkten Sichtweise. Damit steigt auch das Risiko, vorhandene Gestaltungsmöglichkeiten nicht zu erkennen und zu nutzen.

Doch was unterstützt die Soziale Arbeit darin, die digitale Transformation aus der eigenen Fachlichkeit heraus proaktiv mitzugestalten?

Muss die Soziale Arbeit programmieren lernen?

Wird die Digitalisierung aus der Perspektive der Sozialen Arbeit betrachtet, tauchen vielfältige Themen auf: der digitale Wandel in der Gesellschaft und damit zusammenhängende soziale Probleme, neue Kompetenzanforderungen auf Seiten der Fachpersonen und der Klientel, berufsethisch zu reflektierende Entwicklungen und auch das Zusammenwirken der beiden Domänen Soziale Arbeit und Informatik.

Im letztgenannten Punkt steckt für die Soziale Arbeit viel Gestaltungpotenzial. Um dieses Potenzial nutzen zu können, ist es für die Soziale Arbeit hilfreich, wenn sie einerseits ein grundlegendes Verständnis in Bezug auf die Funktionsweisen oder Handlungslogiken der Informatik entwickelt und andererseits ihre eigenen fachlichen Kompetenzen in die Gestaltung der Zusammenarbeit einbringt. Um das zu erreichen sind keine technologischen oder Programmierkenntnisse notwendig. Ein offener Blick auf die Unterschiede und allfällige Gemeinsamkeiten ist ein erster Schritt.

Unterschiede bei Handlungslogik & Kommunikation

Betrachtet man die beiden Fachbereiche ist ein Unterschied sehr offensichtlich: Der Gegenstand der Sozialen Arbeit bezieht sich auf die Bearbeitung sozialer Probleme und bedeutet Arbeit am und mit Menschen. Die Informatik fokussiert auf Technologie und Codes. Dementsprechend nutzen beide Bereiche ganz unterschiedliches Wissen und Fertigkeiten, um ihrer jeweiligen Aufgabe nachzukommen. Daraus folgt auch, dass die Fachpersonen sich einer jeweils eigenen Fachsprache bedienen. Und da der Mensch durch Sprache seine Wirklichkeit konstruiert, prägt sie den Blick auf die Welt entsprechend. Hinzu kommt, dass die Kommunikation in den beiden Arbeitskontexten eine ganz andere Bedeutung hat: Ist sie in der Informatik quasi Mittel zum Zweck, beispielsweise für die Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeitenden oder für den Austausch mit Kund*innen - wie in anderen Arbeitsgebieten auch, so ist sie in der Sozialen Arbeit das zentrale «Werkzeug» und Kernkompetenz.

Die Informatik funktioniert stark über die Handlungslogik «Standardisierung». Das kann beispielsweise heissen: Soll eine Software bestimmte Funktionen erfüllen, müssen im Vorfeld Regeln und Anforderungen dafür identifiziert werden. Dieses Regelwerk ist die Grundlage dafür, dass in der Programmierung umgesetzt werden kann, wie die Software in einem bestimmten Fall genau funktionieren soll. Regeln – und damit Standards - die nicht definiert wurden, fehlen dann resp. existieren nicht.

Ganz anders hingegen erscheint die Handlungslogik der Sozialen Arbeit: Ihr wird in Bezug auf professionelles Handeln eine Nicht-Standardisierbarkeit oder auch ein sogenanntes «strukturelles Technologie-Defizit» (Luhmann, N., & Schorr, K. (1982). Zwischen Technologie und Selbstreferenz). Frankfurt am Main: Suhrkamp), zugeschrieben. Auch wenn der Begriff der Nicht-Standardisierbarkeit danach klingt, ist das nicht als Mangel zu sehen, sondern als genuine Eigenschaft der Tätigkeit von Fachpersonen der Sozialen Arbeit. Diese Eigenschaft ist in der Komplexität sozialer Probleme und in den Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens begründet. So können Ergebnisse des professionellen Handelns nicht einfach prognostiziert werden. Zumeist ist erst durch Reflexion und Evaluation – also erst in der Rückblende – festzustellen, ob geplanten Interventionen die gewünschte Wirkung erzielt haben.

Gemeinsamkeiten entdecken

Wenn die Soziale Arbeit und die Informatik sich im Hinblick auf den Gegenstand, die Handlungslogik und die Bedeutung der Kommunikation so stark unterscheiden, so stellt sich auf der anderen Seite die Frage nach den möglichen Gemeinsamkeiten.

Auch wenn verbindende Themen in den beiden Fachbereichen jeweils sehr unterschiedlich ausgestaltet sind, so vermag der Blick auf diese Gemeinsamkeiten doch eine Verbindung zwischen diesen unterschiedlichen Welten herzustellen und im Idealfall das gegenseitige Verständnis zu fördern. Aus Sicht der Sozialen Arbeit können die folgenden thematischen Verbindungen identifiziert werden:

Grundlegend betrachtet, ist eine Gemeinsamkeit der Faktor Mensch. Sowohl in der Sozialen Arbeit wie in der Informatik spielt der Mensch eine zentrale Rolle, sei es auf der Seite der Leistungserbringung oder der Nutzung. Und nicht zuletzt kann der Faktor Mensch auf beiden Seiten dazu führen, dass auf beiden Seiten nicht immer optimale Lösungen für bestehende Probleme vorhanden sind.

Weiter müssen sich beide Fachbereiche der Herausforderung stellen, hohe Komplexität zu bewältigen. Bei der Informatik ist es eine technologische Komplexität und bei der Sozialen Arbeit ist es die soziale Komplexität, mit der es jeweils adäquat umzugehen gilt. Beide Arten von Komplexität machen die Tätigkeiten in den jeweiligen Berufsfeldern enorm anspruchsvoll.

Und nicht zuletzt: Sowohl die Informatik wie auch die Soziale Arbeit sieht sich mit kontinuierlicher Veränderung und Entwicklung konfrontiert. Fachpersonen und Organisationen müssen in der Lage sein, sich mit diesen Entwicklungen mitzubewegen, um die Qualität ihrer Leistungen sicherstellen zu können.

Das Verständnis dieser gemeinsamen Themen kann dabei helfen, Verbindungen für die Zusammenarbeit an der Schnittstelle zwischen Sozialer Arbeit und Informatik zu schaffen.

Eigene Kompetenzen einbringen

Auch wenn die Kooperation zwischen der Sozialen Arbeit und der Informatik aufgrund der Unterschiede einige Herausforderungen mit sich bringt: Die Soziale Arbeit darf sich bewusst sein, dass sie für die Gestaltung der Zusammenarbeit wichtige Kompetenzen zur Verfügung hat. Ein erster wichtiger Schritt ist, das Verhältnis zur Informatik als Koproduktion zu verstehen, in welcher jede Seite ihren spezifischen Beitrag leistet. Die Soziale Arbeit muss in der Lage sein, ihre Anforderungen an die Adresse der Informatik zu formulieren. Und die Informatik ist gefordert, diese Anforderungen zu verstehen und umzusetzen.

Für die Gestaltung dieser Koproduktion kann die Soziale Arbeit ihre methodischen Ansätze sowohl aus der interdisziplinären Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie auch aus der Klient*innenarbeit einbringen. Dazu zählen beispielsweise Kompetenzen in der Gestaltung von adressat*innengerechter Interaktion und Kommunikation, im Umgang mit Widerstand, bei der Erwartungs- und Auftragsklärung sowie der Partizipation.

Insbesondere der Umstand, dass 80% der fehlgeschlagenen Informatik-Projekte aufgrund von mangelnder oder fehlender Kommunikation scheitern, zeigt auf, dass die Soziale Arbeit mit ihren Kompetenzen gute Karten hat für eine gelingende Zusammenarbeit. Die Soziale Arbeit ist damit gefordert, ihre Kompetenzen selbstbewusst einzubringen und für die Gestaltung der Zusammenarbeit mit der Informatik Verantwortung zu übernehmen.

  • Luhmann, N., & Schorr, K. (1982). Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Merten, R. (2000). Zur Binnenstruktur professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit. In S. Müller, H. Sünker, T. Olk, & K. Böllert, Soziale Arbeit - Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven (S. 399-416). Neuwied, Kriftel: Luchterhand

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