Digitalisierung Fokusartikel

Digitale Medien als soziales Problem: Fachkräfte diskutieren!

Dezember 2023

Arbeitsfeld und persönliche Einstellung beeinflussen, wie Fachkräfte Digitale Medien nutzen. Welche Rolle spielen professionelle Orientierungen? Im Rahmen ihrer Dissertation hat die Autorin dazu Diskussionen mit Gruppen aus verschiedenen Arbeitsfeldern geführt. Dabei hat sich gezeigt, dass fachliche Positionierungen seitens der Profession Soziale Arbeit nach wie vor fehlen.

Digitale Medien werden in verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit unterschiedlich genutzt. Es gibt Mediengruppen, die sich als Standard in den Organisationen der Sozialen Arbeit etabliert haben. Gerade E-Mail und internetbasierte Datenbanken werden von quasi allen Fachkräften über die Arbeitsfelder hinweg intensiv genutzt. Andere Digitale Medien spielen hingegen eine nach wie vor marginale Rolle. Eine erste Feldphase der Untersuchung 2018 bis 2019 zeigte, dass die persönlichen Einstellungen der Fachkräfte entscheidend sind für die Nutzung von Digitalen Medien in professionellen Settings. Professionelle Überlegungen spielten gemäss Datenlage hingegen eine untergeordnete Rolle. Ob und inwiefern die Nutzung mit Einstellungen und Orientierungen zum professionellen Handeln in Zusammenhang stehen, war deshalb Bestandteil einer zweiten Feldphase 2020.

Zwei sozialarbeiterische Perspektiven auf Digitale Medien

In sechs Gruppendiskussionen mit Teams aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit konnte herausgearbeitet werden, dass Digitale Medien von den Fachkräften grundsätzlich als soziales Problem und/oder als Problem der Lebensführung betrachtet werden. Die Diskussionen fokussierten dabei entweder die Gefahrenabwehr und den Schutz vor Digitalen Medien oder die Erweiterung der Handlungsfähigkeit und die Befähigung der Adressat*innen als zentrale Aufgabe der Sozialen Arbeit.

Digitale Medien

Als «Digitale Medien» können alle Kommunikations-, Informationsverarbeitungs- und Arbeitsmittel verstanden werden, die zur Übertragung und zur Funktionserfüllung auf digitale Netzwerke angewiesen sind (z.B. auf das Internet oder interne Computernetzwerke).

Damit sind Alltagsmedien (bspw. Messenger-Dienste oder Soziale Medien) genauso gemeint wie professionalisierte Digitale Medien (bspw. ein Software-Programm, das für Organisationen der Sozialen Arbeit entwickelt wurde).

In den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit und im professionellen Handeln der Fachkräfte spielen die unterschiedlichsten Digitalen Medien eine Rolle, weshalb eine entsprechend offene und breite Definition hilfreich ist.

Die Problematisierung Digitaler Medien erfolgt damit aus unterschiedlichen professionellen Perspektiven heraus, welche mit der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Handlungsfeldern, dem damit verbundenen Auftrag sowie den primären Adressat*innen in Zusammenhang stehen. Daraus ergibt sich ein je anderes Selbstverständnis in Bezug auf die Nutzung Digitaler Medien und ein anderer Auftrag, den die Teams in ihrer professionellen Praxis zu erfüllen suchen. In der Konstruktion Digitaler Medien als soziales Problem oder Problem der Lebensführung erhalten die Fachkräfte die Legitimation, rund um das Thema aktiv zu werden: Würden Digitale Medien kein soziales Problem oder Problem der Lebensführung darstellen, hätten Fachkräfte der Sozialen Arbeit auch keinen Auftrag, die Thematik im professionellen Kontext zu bearbeiten. 

Es zeigten sich in den Gruppendiskussionen und der Art der Problematisierung also zwei Typen:  

  • Typ 1: Die befragten Teams, die mit Kindern und Jugendlichen in stationären Settings arbeiten, weisen eine starke Orientierung an Schutz und Gefahrenabwehr auf. Sie konstruieren Digitale Medien als soziales Problem, das die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen negativ beeinflusst, sodass befürchtet werden muss, dass sie keine vollwertigen Gesellschaftsmitglieder werden (können). Der Auftrag, den sie für sich als Team und die Profession Soziale Arbeit ableiten, ist Kinder und Jugendliche bis zu einem gewissen Grad vor Gefahren zu schützen und sie an die analoge, wirkliche Welt heranzuführen. 
  • Typ 2: Die befragten Teams, die mit Erwachsenen in der gesetzlichen Sozialarbeit oder in der Beratung arbeiten, orientieren sich eher an Befähigung und Erweiterung von Handlungsfähigkeit. Das gilt in Bezug auf die Nutzungsweisen der Adressat*innen wie auch in Bezug auf die eigenen Nutzungsweisen der Fachkräfte. Sie konstruieren Digitale Medien als Problem der Lebensführung. Digitale Medien stellen in diesem Sinne nicht klar erkenn- und definierbare Ansprüche an die Adressat*innen und beinhalten Exklusionsrisiken, wenn der Zugang und die Kompetenzen zur Nutzung nicht gewährleistet werden. Der Auftrag, der sich für die Teams von Typ 2 daraus ergibt, wird nicht abschliessend benannt. Er wird eher der Profession Soziale Arbeit insgesamt zugeordnet und denjenigen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, die mehr in die alltäglichen medialen Verstrickungen der Adressat*innen involviert sind als sie selbst, wie beispielsweise sozialpädagogische Settings der Kinder- und Jugendhilfe.  

Bei Teams des Typs1 führt die Orientierung an Schutz und Gefahrenabwehr zu einer eher kritischen Nutzung Digitaler Medien innerhalb der eigenen Praxis. Teams des Typs 2 weisen mit der Orientierung an Befähigung und Erweiterung von Handlungsfähigkeit weniger Grundsatzkritik auf, wobei die Nutzung zu grossen Teilen vom Ermessen der einzelnen Fachkraft abhängt.  

Promotionsprojekt

Dieser Beitrag basiert auf der Dissertation «Die Mediatisierung professionellen Handelns in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit: Zur Situation der Fachkräfte in der Schweiz» von Caroline Pulver, eingereicht an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, 2023.

Digitale Medien als generationale Herausforderung

Es konnten zwei generationale Aspekte in den Diskussionen ausgemacht werden, die die Fachkräfte in Bezug auf die Nutzung Digitaler Medien beschäftigten: Das junge Alter von Adressat*innen und die eigene Generationenzugehörigkeit der Fachkräfte.  

Das Alter der Adressat*innen spielt in Bezug auf die Positionierung der Fachkräfte eine entscheidende Rolle. Das zeigt sich bei Typ 1 daran, dass sie ihren Auftrag darin sehen, Kinder und Jugendliche vor den gefährlichen Einflüssen Digitaler Medien zu schützen. Aufgrund ihrer noch nicht abgeschlossenen Entwicklung sind Kinder und Jugendliche in den Augen der Fachkräfte nicht in der Lage, die Konsequenzen der Nutzung Digitaler Medien adäquat zu beurteilen. Digitale Medien stellen für sie deshalb ein Risiko dar. Das verdeutlichen die Fachkräfte unter Bezugnahme auf extreme Einzelfallbeispiele aus ihrem Arbeitsalltag: Kinder, die Gewaltbildern ausgesetzt sind, Jugendliche, die online schikaniert werden oder ohne Medienkonsum nichts mehr mit sich anzufangen wissen. Die Betrachtung Digitaler Medien vor dem Hintergrund zu bewältigender Entwicklungsaufgaben hängt im Falle von Typ 1 nicht zuletzt mit dem Erziehungsauftrag zusammen, der in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine Rolle spielt. Auch Typ 2 betont, dass Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, stärker gefordert sind, sich mit Digitalen Medien auseinanderzusetzen, als sie selbst, weil diese für Kinder und Jugendliche eine potenzielle Gefahr darstellen und mit Risiken verbunden sind.  

Die eigene Generationenzugehörigkeit spielt in der persönlichen Positionierung der Fachkräfte zum Thema Digitale Medien ebenfalls eine Rolle. So nutzen die Fachkräfte von Typ 1 ihr Alter, um sich von den Nutzungspraktiken der Adressat*innen abzugrenzen (teilweise auch, wenn sie selbst nur einige Jahre älter sind). Die Fachkräfte erinnern sich ausserdem an die eigene Kindheit und Jugend, die deutlich weniger von Digitalen Medien geprägt war, als es diejenige ihrer Adressat*innen heute ist. Diese Art von Abgrenzungserzählung führt spannenderweise auch ein Teil der Fachkräfte von Typ 2 an, selbst wenn sie nicht mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Die Abgrenzungserzählung wird als Möglichkeit gesehen, wie die Fachkräfte Digitale Medien und deren alltäglichen Einfluss als wichtig und voraussetzungsvoll betrachten können, und trotzdem bis zu einem gewissen Grad kritisch distanziert bleiben können. Den Vergleich mit den Kindern und Jugendlichen von heute können alle nachvollziehen, da alle selbst einmal jünger gewesen sind. Das Früher der eigenen Kindheit und Jugend wird dabei tendenziell besser dargestellt als das Heute der Adressat*innen. Fragen der richtigen, guten Nutzung und der falschen, gefährlichen Nutzung spitzen sich in der Wahrnehmung der Nutzungspraxis der Kinder und Jugendlichen zu.  

Strukturmerkmale des Handelns zeigen sich deutlicher aufgrund Digitaler Medien

In den Diskussionen thematisieren die Teams auch grundsätzliche Strukturmerkmale des Handelns. So diskutieren sie Digitale Medien nicht nur insgesamt als soziales Problem, sondern beleuchten auch bestehende Paradoxien des professionellen Handelns vor dem Hintergrund Digitaler Medien kritisch, so wie beispielsweise die Gestaltung von Nähe und Distanz. 

Vor allem Teams von Typ 2 problematisieren, dass Digitale Medien, insbesondere Soziale Medien, zu einer Vermischung und damit Auflösung von Grenzen führen, auf die sie im Rahmen der Erbringung ihrer teilweise behördlichen Aufträge zwingend angewiesen sind. Die Beschaffenheit Sozialer Medien, was Erreichbarkeit betrifft, die neuen Formen von Kontaktmöglichkeiten, die Veränderung von Privatsphäre aufgrund von digitaler Öffentlichkeit und die Informalität bedrohen für sie die Art und Weise, wie sie die professionelle Beziehung gestalten möchten. Auf der einen Seite führt die Schaffung digitaler Kontaktangebote dazu, dass teilweise auf Beziehung von Angesicht zu Angesicht verzichtet (also mehr Distanz geschaffen) wird, was als Nachteil für die Adressat*innen gesehen wird. Auf der anderen Seite werden die Fachkräfte durch Soziale Medien oder Messenger-Dienste für die Adressat*innen auch privat erreichbar und auffindbar. Die damit einhergehenden Abgrenzungsschwierigkeiten und Veränderungen ihrer professionellen Rolle beurteilen sie negativ. Teams des Typs 1 thematisieren ebenfalls die Neugestaltung von Nähe und Distanz. In diesen Diskussionen betonen die Fachkräfte allerding stärker, dass die Auseinandersetzung mit den Sozialen Medien und Messenger-Diensten, die für die Kinder und Jugendlichen wichtig sind, fast ein Muss darstellt. Sonst kennen sie einen wichtigen Teil der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen nicht.  

Zusammenfassend zeigt sich, dass im Erfahrungswissen der Fachkräfte in Bezug auf Digitale Medien professionelle Positionierungen zum Ausdruck kommen, allerdings sind diese gleichzeitig von persönlichen Überzeugungen und Einstellungen durchdrungen. Handlungsleitende Orientierungen zur Nutzung und Nicht-Nutzung Digitaler Medien werden auch deshalb aus persönlichen Einstellungen gewonnen, weil fachliche Positionierungen seitens der Profession Soziale Arbeit fehlen. So gibt es zwar angeregte Diskussionen und einen wachsenden Theoriebestand zur Digitalisierung der Sozialen Arbeit, aber den Fachkräften fehlen Konzepte, die die Nutzung Digitaler Medien in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit methodisch-professionell leiten. 

CAROLINE PULVER

Prof. Dr., Dozentin an der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit, Abteilung Professionsentwicklung
caroline.pulver@bfh.ch


Zurück zur Übersicht