Digitalisierung Fokusartikel

Tripelmandat trifft Digitalisierung

Oktober 2021

Durch die Digitalisierung ist das Sozialwesen an ganz unterschiedlichen Orten herausgefordert, sich mit Veränderungen und Entwicklungen auseinanderzusetzen. Die Vielfalt der Themen, Haltungen, Erfahrungen und Sichtweisen können eine gemeinsame Diskussion erschweren, sei es in der eigenen Organisation oder in der Ausbildung. Rasch kommt man «vom Hundertsten ins Tausendste».

Um die Orientierung in den Diskussionen zu unterstützen, wurde im Kompetenzzentrum Digitalisierung & Soziale Arbeit von sozialinfo.ch das bestehende Tripelmandat für die Soziale Arbeit um jene Dimensionen erweitert, die für den Kontext der Digitalisierung relevant sind. Das Ergebnis ist eine einfach gehaltene Übersicht, in der sich relevante Themen, unterschiedliche Perspektiven, Zugänge und Spannungsverhältnisse oder Entwicklungsthemen verorten lassen.

Mandate kurz erklärt

Gesellschaft: Der gesellschaftliche und politische Kontext (bspw. Ausgestaltung des Systems der sozialen Sicherung) beeinflusst und definiert die Rahmenbedingungen, unter welchen das Sozialwesen seine Leistungen für die Adressat*innen erbringt.

Klientel: Soziale Probleme entstehen in den konkreten Lebensverhältnissen von Individuen oder Personengruppen. Diese erwarten von der Sozialen Arbeit Unterstützung in der Lösung oder Bewältigung ihrer konkreten, praktischen Probleme.

Profession: Das Mandat der Profession beinhaltet den Anspruch an die wissenschaftliche Fundierung von Theorie und Praxis und die Berufsethik als normativer Kompass zur Begründung professionellen Handelns.

Das Tripelmandat der Sozialen Arbeit

Das Tripelmandat unterstützt die Fachpersonen der Sozialen Arbeit ihre Arbeit aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten: Was ist der Auftrag, der aus dem gesellschaftlichen oder politischen Kontext erwächst? Welche Aufträge werden an Fachpersonen oder Organisationen herangetragen? Was zeigt sich, wenn eine Situation, eine Anforderung oder ein Auftrag mit professionsbezogenen und berufsethischen Kriterien betrachtet und reflektiert wird? Das Tripelmandat hilft somit, sich zu orientieren und systematisch verschiedene Perspektiven für die fachliche Auseinandersetzung einzunehmen sowie Spannungsverhältnisse oder Dilemmata sichtbar zu machen.

Das Tripelmandat der Sozialen Arbeit (Staub-Bernasconi, 2018) beinhaltet die Mandate der Gesellschaft, der Klient*innen resp. Adressat*innen sowie der Profession Soziale Arbeit. Fachliche Themen lassen sich bei diesen drei Mandaten verorten und miteinander in Beziehung setzen. Die verschiedenen Mandate stehen – je nach Thematik –mal mehr, mal weniger in einem Spannungsverhältnis zueinander. Ein Beispiel: Wenn der gesellschaftspolitische Auftrag daraus besteht, die soziale Sicherung möglichst kostenbewusst auszugestalten und die Profession Soziale Arbeit die Förderung gesellschaftlicher Teilhabe im Blick hat, können daraus widersprüchliche Zielsetzungen entstehen. Die Fachpersonen sind jeweils herausgefordert, in ihrem beruflichen Alltag mit solchen Dilemmata einen Umgang zu finden. Die Systematik des Tripelmandats kann diesen Prozess der Reflexion und der Positionierung unterstützen und eine gemeinsame Diskussion ermöglichen.

Im Hinblick auf die Digitalisierung können beispielsweise im Mandat «Gesellschaft» die Themen «gesellschaftlicher Wandel» oder «Arbeitsmarkt 4.0» im Zusammenhang mit der technologischen Entwicklung verortet werden. Im Bereich des Mandats «Klientel» würden sich neue (oder sich akzentuierende) soziale Probleme oder die konkreten Veränderungen in der Lebenswelt einordnen lassen. Als Beispiele können hier Prozesse der digitalen Exklusion oder des «digital gap» (digitale Kluft: Unterschied im Zugang und der Nutzung von technologischen Lösungen) genannt werden. Aus Sicht der Profession Soziale Arbeit werden vermutlich insbesondere die berufsethische Reflexion von Entwicklungen in der Gesellschaft, aber auch von Risiken und Chancen im Hinblick auf die professionelle Tätigkeit relevant werden.

Erweiterungen für den Kontext Digitalisierung

Für den Kontext der Digitalisierung wurde das Tripelmandat um jene Dimensionen ergänzt, welche für diese Thematik relevant sind und die es ermöglichen, die spezifischen Themen, Perspektiven und Spannungsverhältnisse zu integrieren.

Die erste, zusätzliche Dimension ist jene der «Technologie». Damit ist im Grundsatz der gesamte Informatik-Bereich gemeint, welcher für die Entwicklung, Bereitstellung und den Betrieb von technologischen Lösungen zuständig ist. Neben Lösungen, welche in den verschiedensten Bereichen der Arbeitswelt oder im Privatbereich genutzt werden, gibt es auch branchenspezifische Lösungen für den Sozialbereich. Je nachdem auf welche Anwendungszwecke oder Nutzer*innen die Lösungen ausgerichtet sind (z.B. eine App zur Begleitung einer Suchtberatung oder eine Software für die Falldokumentation in der sozialarbeiterischen Beratungsarbeit), benötigen die IT-Firmen spezifische Kenntnisse, um gute Lösungen zu entwickeln, beispielsweise Kenntnisse über eine Klientengruppe der Sozialen Arbeit oder in Bezug auf konkrete Anforderungen der sozialen Organisationen und deren Fachpersonen.

Mit der «Disziplin» wird jene Dimension in der Systematik ergänzt, welche das notwendige (wissenschaftliche) Wissen für die praktische Tätigkeit in der Sozialen Arbeit zur Verfügung stellt: die Forschung & Entwicklung sowie die Aus- und Weiterbildung, welche durch Hochschulen und andere Bildungsinstitutionen geleistet wird. In Bezug auf die Digitalisierung tauchen in dieser Dimension beispielsweise Fragen danach auf, welche digitalen Kompetenzen in Aus- und Weiterbildung aktuell und in Zukunft integriert werden sollen? Welche relevanten Forschungsfragen müssen beantwortet werden, um die Praxis der Sozialen Arbeit weiterzuentwickeln? Oder, wie können Methoden für den digitalen Kontext adaptiert werden? Wie auch bei anderen Fachthemen, die in der Sozialen Arbeit relevant sind, ist der Erkenntniszuwachs nicht nur innerhalb der eigenen Disziplin zu finden. Auch bei der Digitalisierung sind die Bezugsdisziplinen (Soziologie, Psychologie, Recht etc.) mögliche «Lieferant*innen» von neuem Wissen.

Durch die Dimension «Praxis» wird jener Bereich sichtbar gemacht, in welchem sowohl Aufträge aus den verschiedenen Mandaten wie auch Aspekte der neuen Dimensionen «Technologie» und «Disziplin» zusammenkommen und praktisch umgesetzt werden. Diese Umsetzung erfolgt, neben der konkreten Arbeit der Fachpersonen mit den Adressat*innen (z.B. Chatberatung), auch durch die Ausgestaltung der sozialen Institutionen und ihrer Angebote (z.B. Blended Counseling) oder auch durch übergreifende Kooperationen (Stichwort: Interoperabilität). Aufgrund dieser verschiedenen Ebenen wurde die Dimension «Praxis» zusätzlich in die Sub-Dimensionen «Fachpersonen», «Organisationen» und «Systeme» unterteilt.

Beispiel "Blended Counseling"

Wie kann das erweiterte Tripelmandat nun für eine fachliche Diskussion oder zur gemeinsamen Verständigung genutzt werden? Und: Wie sind die verschiedenen thematischen Aspekte oder relevante Fragestellungen in diesem Modell konkret zu verorten? Dies wird nachfolgend beispielhaft (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) anhand des Themas «Blended Counseling» (Kombination von Beratung in physisch-realen und digitalen Settings) aufgezeigt.

Klientel: Mit den Veränderungen in der Lebenswelt der Klientel entsteht möglicherweise das Bedürfnis nach neuen oder ergänzenden digitalen Beratungsangeboten. Werden die Veränderungen bei den Adressat*innen wahrgenommen oder abgefragt?

Technologie: Um Beratung in einer digitalen Form anzubieten, ist eine technische Lösung einzusetzen, welche sowohl den fachlichen Anforderungen (z.B. Datenschutz) wie auch den verschiedenen Nutzer*innen (Fachpersonen und Adressat*innen) entspricht. Welche Lösungen sind für diesen Zweck verfügbar und haben sie sich für die entsprechende(n) Zielgruppe(n) bewährt?

Praxis: Die Organisation setzt sich mit Themen der Infrastruktur (Finanzierung, Software-Evaluation, Projektierung), Anpassungen von Konzepten oder Prozessen sowie mit der Schulung der Mitarbeitenden (Tool-Anwendung und Beratungsmethodik) auseinander. Die Fachpersonen sind herausgefordert, ihre methodischen Kompetenzen auch in die neuen Formate einzubringen und zu reflektieren sowie sich mit einer fachlich adäquaten Nutzung der digitalen Formate auseinanderzusetzen.

Disziplin: Im Hinblick auf Aus- und Weiterbildung kann man die Frage stellen, welche Kompetenzen in welchen Bildungssettings vermittelt werden sollen, um eine hohe Qualität der Leistungserbringung durch Fachpersonen und Organisationen zu gewährleisten. Was bedeutet die Anwendung bestimmter Ansätze (bspw. Lösungsorientierung oder motivationsfördernde Gesprächsführung) für die Adaption des methodischen Handelns. Und wo stösst man an die Grenzen dessen, was fachlich sinn- oder wirkungsvoll ist?

Profession: Aus berufsethischer Sicht ist beispielsweise zu reflektieren, inwiefern digitale Angebote zu einem besseren oder schlechteren Zugang für Adressat*innen führen. Oder auch inwiefern, die benötigten Kompetenzen und die Verfügbarkeit von IT-Mitteln (PC, Kamera, Internetanschluss etc.) zu einer grösseren Ungleichheit im Beratungs- und Begleitungsprozess führen.

Gesellschaft: Mit Blick auf die allgemeinen Entwicklungen kann sicher beobachtet werden, dass sich digitale Dienstleistungen zunehmend verbreiten und von Kund*innen– je nach Branche und Art der Dienstleistung – teilweise erwartet werden. Kann diese Haltung und Kompetenz auch von Klient*innen für die Inanspruchnahme von sozialen Dienstleistungen erwartet werden? Oder ist die Idee nach zusätzlichen digitalen Angeboten primär von der Vorstellung oder Hoffnung geprägt, man könnte auf der Seite der finanzierenden Stellen mittel- oder langfristig Kosten reduzieren?

Das obige Beispiel zeigt in groben Zügen auf, wie die verschiedenen Themen und Perspektiven durch die verschiedenen Dimensionen systematisch betrachtet werden können. In welcher Tiefe die Diskussion stattfinden kann, ist abhängig vom konkret vorhandenen Wissen und der Erfahrung. Allenfalls wird während einer Diskussion auch erkennbar, in welchem Bereich das eine oder das andere noch erweitert werden sollte. Nicht zuletzt führt die systematische Herangehensweise auch dazu, relevante Fragestellungen zu identifizieren. Die Suche nach den Antworten auf diese Fragen führt schlussendlich zu einer fachlichen Auseinandersetzung, die der Praxis dazu dient, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln.

 


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