Ist die Verfügung eines Regierungsstatthalters für einen Sozialdienst bindend? Falls nein, welche weiteren rechtlichen Mittel hat der Sozialhilfebezüger, den Entscheid des SD (erneut) anzufechten? (Verwaltungsgericht ...? Wer bezahlt das?)
Herr L. war bis Ende 2019 existenzdeckend als selbständig Handwerker tätig. Er hatte vor 18 Jahren aufgrund gesundheitlicher Beschwerden vorübergehend für zwei Jahre eine IV Rente, welche nach Genesung eingestellt wurde. Da sich der Gesundheitszustand von Herrn L. aufgrund neuer Leiden in den Jahren 2018 und 2019 zunehmend verschlechterte und es keine Möglichkeit gab, eine Taggeldversicherung abzuschliessen, entschloss er sich, sein Geschäft aufzulösen und eine SD Anmeldung zu machen. Parallel dazu meldete er sich bei der IV für Eingliederungsmassnahmen an. Vermögen lag zu jenem Zeitpunkt keines mehr vor, ausser seine mobile Werkstatt, ein kleiner Lieferwagen, der seine Existenzgrundlage gebildet und mit dem er die Kunden bedient hatte. Kostenpunkt: rund CHF 5000.- über dem vom SD erlaubten Vermögenswert von CHF 4000.-.
Der SD verlangte in der Folge den Verkauf des Autos, da dessen Wert als Kompetenzstück über dem erlaubten Vermögen lag; dies trotz krankheitsbedingten Gehbeschwerden des Klienten (die mit ärztlichem Schreiben durch die zuständige Spezialärztin belegt waren, auf das der SD jedoch nicht eingegangen ist) und abgelegener Wohnlage.
Er L. hat darauf Einsprache erhoben und es kam zum Schlichtungsverfahren. Im Rahmen des Schlichtungsgesprächs verfasste die Regierungsstatthalterin eine Verfügung, welche sie den Parteien mitgab, da der am Gespräch teilnehmende Sozialarbeiter nicht über die Kompetenzen verfügte (da in Ausbildung), die Verfügung gutzuheissen. Die Regierungsstatthalterin machte klar, dass Sie, sobald er Sozialdienst Stellung bezogen hätte, entscheiden werde. Inhalt der Verfügung: das Auto darf behalten werden, muss aber von Herrn L. selber finanziert werden. Für die Unkosten (Steuern ...) wird via Fondgesuch von Seiten (am Gespräch anwesenden Spitalsozialarbeiterin) ein Jahresbetrag eingeholt.
Von Seiten Sozialdienst erfolgte darauf eine erneute Verfügung mit Ablehnung des Ansinnens von Herrn L. Man verlangte erneut ein ärztliches Zeugnis. Aktuell ist die zuständige Spezialistin des Inselspitals daran, eine erneute detailliertere Stellungnahme zu verfassen.
Mittlerweile ist der IV Entscheid eingetroffen: Herr L kann sich ab 23.11. bis 28.2. einem Belastbarkeitstraining unterziehen. Von Seiten Eingliederungsfachfrau wurden mündlich weitere Eingliederungsmassnahmen in Aussicht gestellt.
Sollte der Sozialdienst zwar anerkennen, dass med. Gründe vorliegen, aber weiter darauf bestehen, dass der Lieferwagen im geschätzten Wert von 9000.- zu teuer sei und deshalb verkauft und gegen ein Auto mit Verkaufswert von max . 4000.- eingetauscht werden müsste, bleibt die Frage, wie sich Herr L. gegen den Entscheid wehren kann.
Da das Belastbarkeitstraining zwar nicht 6 Monate dauern wird (was eine EL Anmeldung möglich machen würde), jedoch eine hohe Chance besteht, dass die IV mit Eingliederungsmassnahmen einsteigt, scheint eine Ablösung vom Sozialdienst per 23.11. ein gangbarer Weg zu sein, damit Herrn L. nicht mehr dem zermürbenden und für ihn emotional hoch belastenden Verfahrensprozess ausgesetzt ist.
Für den Fall, dass sich ein erneuter Sozialhilfebezug abzeichnen sollte: Könnte während der (vorerst) drei Monate IV Massnahmen das Auto an eine Drittperson überschrieben und die in Aussicht gestellten Fondsgelder dieser Person ausbezahlt werden?
Besten Dank für Ihre Einschätzung der Situation
Freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Anja Loosli Brendebach
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Horat
Vielen Dank für Ihre Frage.
Ich versuche das Vorgehen der Regierungsstatthalterin einzuordnen.
In Art. 52 Abs. 1 SHG BE ist festgehalten, dass gegen Verfügungen der Sozialdienste und von öffentlichen und privaten Trägerinnen oder Trägern im Zuständigkeitsbereich der Gemeinden bei der Regierungsstatthalterin Beschwerde erhoben werden kann. Beschwerdeentscheide unterliegen nach Abs. 2 von Art. 52 SHG BE der Beschwerde an das Verwaltungsgericht. Nach Art. 21 Abs. 1 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege (VRPG) des Kantons Bern hört die Behörde die Parteien an, bevor sie entscheidet. Die Parteien dürfen so lange neue Tatsachen und Beweismittel in das Verfahren einbringen, als nicht verfügt oder entschieden ist (Art. 25 Abs. 1 VRPG). Erweist sich die Beschwerde nicht als offensichtlich unzulässig oder unbegründet, wird der Schriftenwechsel durchgeführt (Art. 69 Abs. 1 VRPG). Statt eine Beschwerdevernehmlassung einzureichen, kann die verfügende Behörde ZUGUNSTEN der beschwerdeführenden Partei ganz oder teilweise neu verfügen oder die angefochtene Verfügung aufheben (Art. 71 Abs. 1 VRPG). Die Beschwerdeinstanz setzt das Verfahren fort, wenn es durch eine neue Verfügung nicht gegenstandslos geworden ist (Art. 71 Abs. 2 VRPG). Kann auf die Beschwerde eingetreten werden, so entscheidet die Beschwerdeinstanz in der Sache oder weist die Akten ausnahmsweise und mit verbindlichen Anordnungen an die Vorinstanz zurück (Art. 72 Abs. 1 VRPG).
Der erste für mich etwas verwirrliche Punkt ist deshalb, dass Sie von einer "Einsprache" schreiben. Ich habe aufgrund der gesetzlichen Grundlagen den Eindruck, es müsste eine Beschwerde sein. Weshalb die Regierungsstatthalter die geplante Verfügung deshalb dem Lehrling mitgab, ist für mich nur dahingehend nachvollziehbar, als der Sozialdienst Gelegenheit erhalten sollte, zum geplanten Entscheid Stellung zu nehmen. Anders kann ich mir dies nicht erklären. Hat die Regierungsstatthalterin in der Zwischenzeit nicht entschieden, muss sie dies noch tun. In diesem Fall ist ihr Entscheid verbindlich für den Sozialdienst und er kann die Haltung des Autos nicht einfach aus anderen rechtlichen Gründen ablehnen.
Ich schlage Ihnen deshalb folgendes Vorgehen vor: Nachfrage bei der Regierungsstatthalterin, wann mit einem Entscheid zu rechnen ist. Anfechtung der neuen Verfügung des Sozialdienstes betreffend Auto mittels Beschwerde an die Regierungsstatthalterin mit dem Begehren, die beiden Verfahren zu vereinigen.
Als Hinweis: Solange das Beschwerdeverfahren läuft, darf der Sozialdienst die Veräusserung nicht verlangen.
Ergänzend möchte ich ausführen, dass Autos, die über dem Vermögensfreibetrag (Fr. 4'000.- bei einer Einzelperson) liegen, tatsächlich durch Autos ersetzt werden müssen, deren Wert im Freibetrag liegen und der Verkaufserlös abzüglich des Kaufpreises des "neuen" Autos auf der Einnahmenseite anzurechnen ist (siehe auch Handbuch der Berner Konferenz für Sozialhilfe, Eintrag "Motorfahrzeuge (Auto)"). Wird das Auto aber während der unterstützungsfreien Zeit auf eine Drittperson überschrieben (dieser geschenkt, wenn keine Entschädigung erfolgt), stellt es grundsätzlich kein Vermögen mehr dar. Allerdings könnte dann das Vorgehen von der Sozialhilfe als rechtsmissbräuchlich gewertet werden, weil es einzig darauf ausgerichtet wäre, Sozialhilfeleistungen erhältlich zu machen, obwohl noch Vermögen vorhanden gewesen wäre. In diesem Fall könnte die Sozialhilfe allenfalls die Unterstützungsleistungen ablehnen, bis z.B. ein Kaufpreis bezahlt ist. Ich rate deshalb eher nicht zu diesem Vorgehen.
Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen zu können.
Freundliche Grüsse
Anja Loosli Brendebach