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UNO-Behindertenrechtskonvention: Ein grosser Schritt in Richtung Gleichstellung

Mai 2014 / Regine Strub (Text)

Am 15. April 2014 hat die Schweiz in New York die UNO-Behindertenkonvention ratifiziert. Die Behindertenorganisationen haben sich von ihr einen kraftvollen Schub in Richtung Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen erhofft. 

Paradigmawechsel durch die BRK

Marianne Keller ist ausgebildete Car-Chauffeurin – und: sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Weil sie zum Ein- und Aussteigen in das Fahrerhaus auf Hilfe bzw. auf kostenaufwändige Installationen im Bus angewiesen wäre, verzichtet Arbeitgeber H. auf eine Einstellung. Dies ist ein fiktives Beispielt. Sollte die UNO-Behindertenrechtskonvention konsequent umgesetzt werden, gehören solche Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen künftig der Vergangenheit an. Die UNO-Behindertenrechtskonvention verpflichtet die Schweiz, alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, um Marianne Keller die gleichen Chancen auf eine ihr entsprechende Arbeit einzuräumen wie einem Menschen ohne Behinderungen. Dies gilt aber nicht nur für die Arbeitswelt, sondern für sämtliche Lebensbereiche. So formuliert die UNO-Behindertenrechtskonvention bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Die zentrale Aussage der UNO-Behindertenrechtskonvention liegt denn auch in einem eigentlichen Paradigmenwechsel. Der Fokus liegt nicht länger bei einem defizitorientierten Blick auf die Beeinträchtigungen und Einschränkungen eines Menschen, sondern auf der Umwelt und der Gesellschaft. Die Umwelt soll sich dem Menschen anpassen, und ihm jene Hilfestellungen zukommen lassen, die er braucht, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Die Konvention tritt 30 Tage nach ihrer Ratifizierung in New York in der Schweiz in Kraft.

Warum braucht es die UNO-Behindertenrechtskonvention?

Die Normen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gelten zwar auch für Menschen mit Behinderungen. Doch wie das Beispiel von Marianne Keller zeigt, sind Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag nach wie vor Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Die UNO-Behindertenrechtskonvention konkretisiert die Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen und verpflichtet Vertragsstaaten, ihre Integration umfassend zu fördern. Zwar haben wir seit 2002 in der Schweiz ein Behindertengleichstellungsgesetz, das Menschen mit Behinderungen ermöglicht, sich gegen Benachteiligungen in den Bereichen Bau, Dienstleistungen, Aus- und Weiterbildung und öffentlicher Verkehr mit rechtlichen Mitteln zur Wehr zu setzen. Dieses Gesetz hat einige Verbesserungen gebracht, trotzdem bestehen aus Sicht der Behindertenorganisationen bei der Umsetzung Lücken und Mängel. So fehlt in den meisten Kantonen eine Gleichstellungsstrategie, welche die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen systematisch fördern würde. Es fehlt zudem an spezialisierten Fachstellen und Beratungsmöglichkeiten für Betroffene, so dass diese ihre Rechte bisher kaum durchgesetzt haben. Die Behindertenorganisationen erhoffen sich deshalb von der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention einen weiteren Schub in Richtung Gleichstellung. Im Umgang mit einem privatrechtlichen Arbeitgeber nützt Marianne Keller das geltende Behindertengleichstellungsgesetz ohnehin wenig. Denn der Geltungsbereich des BehiG umfasst lediglich Arbeitsverhältnisse nach dem Bundespersonalgesetz –private Firmen oder kantonale Verwaltungen verpflichtet es bisher nicht. Dies wird sich mit der Ratifizierung der UNO-Konvention ändern müssen.

Um die Umsetzung der Konvention zu kontrollieren, müssen Staaten, welche die Konvention ratifiziert haben, in regelmässigen Abständen einen Bericht abliefern. Dieser muss über die Umsetzung und Einhaltung der Konvention Rechenschaft ablegen. Zudem verpflichtet die Konvention die Vertragsstaaten, nationale Anlaufstellen einzurichten, welche die Einhaltung der Konventionsbestimmungen überwachen (sogenanntes Monitoring).

Schwachpunkt der Ratifizierung

Ein Schwachpunkt der Ratifizierung liegt möglicherweise darin, dass der Bundesrat die Konvention zwar ratifiziert hat, jedoch bewusst auf eine Unterzeichnung des Zusatzprotokolls verzichtet hat. Dieses würde das Einreichen von individuellen Beschwerden an einen Ausschuss der Konvention ermöglichen. Für Marianne Keller heisst dies, dass sie trotz UNO-Behindertenrechtskonvention keine Klage gegen den Arbeitgeber einreichen kann, der sie nicht eingestellt hat. Denn nach Meinung des Bundesrates sind Sozialrechte nicht justiziabel. Der Bundesrat will zunächst mit dem Staatenberichtsverfahren erste Erfahrungen sammeln. Ruedi Tobler kritisiert diesen Umstand in einem Artikel des vpod heftig (vpod-Bildungspolitik 180/2013). Diese Haltung des Bundesrates werde in einem Gutachten des Völkerrechtsspezialisten Walter Kälin und seinen Mitautoren als völkerrechtswidrig kritisiert, schreibt Tobler. Trotzdem halte der Bundesrat daran fest. Die Botschaft des Bundesrates zur Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention könne deshalb den Verdacht nicht ausräumen, "dass es dem Bundesrat einzig und allein um das internationale Image" gehe, so Tobler.

Die Umsetzung der Konvention

Doch auch wenn es vorläufig für Marianne Keller nicht möglich sein wird, eine Klage einzureichen, wird die Schweiz auf anderen Ebenen aktiv werden müssen, um die Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung zu verwirklichen. Gesetze und Verordnungen in verschiedenen Bereichen müssen angepasst werden. So kennt das heutige Arbeitsrecht zwar bereits einen Arbeitnehmerschutz und eine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Aber: das geltende Arbeitsvertragsrecht schützt nicht vor Diskriminierung bei der Anstellung, d.h. beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Schweizerische Rechtsordnung im Bereich der privatwirtschaftlichen Berufstätigkeit bleibe deshalb weit hinter den Vorgaben der Behindertenrechtskonvention zurück, so Kälin und Mitautoren in ihrem Gutachten, das einen guten Überblick über weitere gesellschaftliche Bereiche gibt, die von der Behindertenrechtskonvention tangiert werden. Es wird nun auch darum gehen, bestehende Gesetze konsequenter – im Sinne der Konvention – anzuwenden. Auch auf politischer Ebene sind Massnahmen gefragt. So könnte der Bundesrat Anreize für private Unternehmen schaffen, damit diese vermehrt bereit sind, Menschen wie Marianne Keller einzustellen und ihnen mögliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

"Schattenübersetzung" und "Leichte Sprache"

Kritik gab es im Vorfeld der Ratifizierung auch in Bezug auf die Sprache. Behindertenorganisationen im deutschsprachigen Raum kritisierten, dass der englische Originaltext ins Deutsche übersetzt worden sei, ohne die Behindertenorganisationen beizuziehen. Dies habe dazu geführt, dass einige Begriffe falsch oder unpräzise übersetzt worden seien. So wird bemängelt, dass im amtlich übersetzten Text der englische Begriff "inclusion" mit "Integration" statt "Inklusion" übersetzt worden sei. Ähnliches gilt für den Begriff "accessibility", der mit "Zugänglichkeit" statt "Barrierefreiheit" übersetzt worden sei. Korrekte Begriffe sind nach Einschätzung der Behindertenorganisationen jedoch wichtig, um zu einer klareren Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft beizutragen. Sie haben deshalb eine sogenannte "Schattenübersetzung" geschrieben, die sie der offiziellen Übersetzung entgegenhalten.

Um Menschen mit Lernschwierigkeiten den Zugang zu den Informationen der UNO-Konvention zu erleichtern, hat die Monitoring-Stelle in Deutschland eine Webpage mit einer Übersetzung der Konvention in "Leichte Sprache" erstellt. Mit einfachen Worten und grafischen Gestaltungselementen werden die Bedeutung der einzelnen Normen erklärt. Auch für Menschen ohne Lernschwierigkeiten empfiehlt es sich, die Seite einmal anzuschauen.

Stiftung Cerebral

Magazin 2/2015: Ist die Schweiz schon reif für die UNO-Behindertenrechtskonvention?

«Ist die Schweiz schon reif für die Behindertenrechtskonvention?», fragt Nationalrat Christian Lohr. Was ist diese UNO-BRK eigentlich? Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Behinderten-Dachorganisation Integration Handicap? Die UNO-Behindertenrechtskonvention - u.a. mit einem Gastbeitrag von Christian Lohr - ist Schwerpunktthema in unseren neusten Ausgabe des Magazins.

SZH/CSPS

Empfehlungen zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention bei behinderten Kindern

Studierende der Universität Kurt Bösch in Sion haben im Auftrag von Integras Empfehlungen zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention für Kinder mit einer Behinderung in der Schweiz erarbeitet. In ihrer Arbeit verschafften sich die Studierenden zunächst einen Überblick über die Gesetzeslage in einigen europäischen Ländern zur Vereinbarkeit und Umsetzung von Behindertenrechtskonvention und Kinderrechtskonvention. In einem zweiten Teil Ihrer Studie untersuchten sie in sieben verschiedenen Einrichtungen in der Romandie den Stand der Umsetzung der UN-Kinderrechte. Aufgrund der Recherchen haben die Studierenden eine Liste von Handlungsempfehlungen für Fachleute zusammengestellt, die mit Kindern mit einer Behinderung arbeiten.Weitere Informationen zum Projekt können per Email angefragt werden: kinderrechte@integras.ch 

SKMR

Die Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Schweiz

Die doppelte Diskriminierung behinderter Kinder in der Schweiz dargelegt anhand zweier Beispiele

Bedeutung für die Praxis Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-Behindertenrechtskonvention, BRK), das in der Schweiz seit dem 15. Mai 2014 in Kraft ist, übernimmt hinsichtlich der Kinder einige der allgemeinen Grundsätze des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (UNO-Kinderrechtskonvention, KRK). Die BRK führt eine ganze Reihe von Massnahmen auf, wie etwa Gesetzesreformen oder die verfassungsrechtliche Anerkennung der Gebärdensprache als offizielle Sprache, mit denen Verstösse gegen die Konvention behoben und die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderungen erleichtert werden können. Das Recht auf Anhörung gemäss Artikel 12 KRK und das Recht auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben gemäss Artikel 31 Abs. 2 KRK sind zwei Beispiele für die doppelte Diskriminierung behinderter Kinder: zum einen als Kinder und zum andern als Menschen mit Behinderungen.

vpod

Wie ernst nimmt der Bundesrat internationale Menschenrechtsverpflichtungen?

In seiner letzten Sitzung im vergangenen Jahr hat der Bundesrat die Botschaft für den Beitritt der Schweiz zum Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, die internationale Abkürzung ist ICRPD) verabschiedet.1 Er schlägt dafür keinerlei gesetzgeberische Massnahmen vor und will keinen Beitritt der Schweiz zum Zusatzprotokoll, das individuelle Beschwerden an den Ausschuss der Konvention ermöglicht.

Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V.

Schattenübersetzung

UN-Behindertenrechtskonvention

Deutschland, Liechtenstein, Österreich und die Schweiz haben fast ohne Beteiligung behinderter Menschen und ihrer Verbände eine deutsche Version der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen abgestimmt. Alle Bemühungen von Seiten der Behindertenorganisationen in den vier beteiligten Staaten, wenigstens die gröbsten Fehler zu korrigieren, sind gescheitert. 

3sat

Mitten im Leben? - Der lange Weg zur Inklusion - 3sat

Menschen mit Behinderung sollen in allen gesellschaftlichen Bereichen gleichberechtigt teilhaben, von Anfang an. So sieht es die UN Behindertenrechtskonvention vor. Doch bis zur vollständigen Inklusion ist es noch ein weiter Weg, vor allem für Menschen mit einer schweren Behinderung. Anhand von vier Protagonisten wird aufgezeigt, welche gesellschaftlichen Herausforderung das bedeutet und welche Möglichkeiten die Betroffenene haben.

EBGB

10 Jahre BehiG

"10 Jahre BehiG - Was sagen Sie dazu?

Vor zehn Jahren, am 1. Januar 2004, ist das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft getreten. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen würdigt dieses Jubiläum mit der Veröffentlichung einer Reihe von freien Kommentaren unterschiedlicher Protagonisten zum zehnjährigen Bestehen des Gesetzes.Eine monatliche Veröffentlichung ab März ist vorgesehen.


Aktualisierung: Behindertenorganisationen veröffentlichen einen Schattenbericht zum Staatenbericht

Ende August 2017 hat Inclusion Handicap der Uno einen Schattenbericht zur Uno-Behindertenrechtskonvention überreicht. Die Organisation hat den Bericht im Zeitraum von zwei Jahren zusammen mit seinen 25 Mitgliederorganisationen erarbeitet.

Wie die Präsidentin von Inclusion Handicap, Nationalrätin Pascale Bruderer, an der Medienkonferenz sagte, besteht in sämtlichen Lebensbereichen Handlungsbedarf. Die Organisation bemängelt bauliche Barrieren, die immer noch bestehen, Diskriminierungen am Arbeitsplatz, fehlenden Nachteilsausgleich bei der Ausbildung sowie menschenrechtlich problematische Praxis von Zwangseinweisungen in psychiatrische Kliniken. Der Bericht enthält denn auch zahlreiche politische Forderungen.


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