Arbeitsmarkt Fokusartikel

Wieso wechseln Arbeitnehmer*innen im Sozialwesen ihre Stelle?

Dezember 2022 / Sarah Huber; Matthias Giger

Fluktuation ist im Sozialwesen ein ernstzunehmender Kostenfaktor geworden. Die Gründe für die häufigen Stellenwechsel aus der Perspektive von Arbeitnehmer*innen sind bislang kaum untersucht worden. Sozialinfo.ch hat in Zusammenarbeit mit der FHNW Soziale Arbeit ein Forschungsprojekt lanciert, um diese Wissenslücke zu schliessen und Ansatzpunkte für eine nachhaltige Rekrutierung zu gewinnen.

Mit rund 15‘000 Organisationen und über 100‘000 Mitarbeitenden hat der Arbeitsmarkt im Sozialwesen eine beachtliche Grösse und volkswirtschaftliche Bedeutung. Von aktuellen und zukünftigen Herausforderungen wie Fachkräftemangel, Fluktuation und Abwanderung in andere Berufe ist diese Branche in steigendem Masse betroffen.

Projekt «Nachhaltige Rekrutierung im Sozialwesen»

Mit dem Projekt «Nachhaltige Rekrutierung im Sozialwesen» wollen sozialinfo.ch und die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Wissenslücken rund um das Thema Fluktuation im Sozialwesen schliessen. Dies soll zum einen zu einer besseren Passung zwischen zu besetzenden Stellen und Stellensuchenden beitragen, und zum anderen den Diskurs rund um Fachkräftemangel, Fluktuation und Abwanderung vorantreiben.

An der qualitativen Online-Umfrage zum Thema der Wechselmotivation von Arbeitnehmer*innen aus dem Sozialwesen nahmen 377 Personen teil. Davon waren 22 Neueinsteiger*innen im Sozialwesen, 24 Wiedereinsteiger*innen, 156 arbeiteten aktuell im Sozialwesen und waren mit ihrer Stelle zufrieden, 175 Personen arbeiteten aktuell im Sozialwesen und wollten die Stelle wechseln. Für den vorliegenden Beitrag wurden nur diejenigen berücksichtigt, die die Stelle wechseln wollten.

Die auffallend hohe Fluktuation ist ein Kostentreiber staatlicher Ausgaben, ausserdem werden Kündigungen weitaus häufiger durch Arbeitnehmende als durch Arbeitgebende ausgesprochen.1 Diese Tatsachen weisen einerseits auf mögliche Problemursachen hin und verdeutlichen andererseits den Handlungsbedarf.

Diesem Bedarf will sozialinfo.ch begegnen und herausfinden, was Arbeitnehmer*innen aus dem Sozialwesen dazu bewegt, ihre Stelle zu wechseln. Im Herbst 2022 lancierten sozialinfo.ch und die FHNW Soziale Arbeit im Rahmen des Forschungsprojekts «Nachhaltige Rekrutierung im Sozialwesen» eine Online-Befragung für Arbeitnehmer*innen und Neueinsteiger*innen aus dem Sozialwesen. An dieser Stelle gewähren wir einen ersten Einblick in die Forschungsergebnisse und die gewonnenen Erkenntnisse.

Erklärungsmodell «erweiterter Managementkreis»

Es hat sich gezeigt, dass die Gründe für den Wunsch nach einem Stellenwechsel sehr vielfältig sind. Zu deren Einordnung beziehen wir uns auf das Modell des Managementkreises2, das wir unseren Erfordernissen angepasst und erweitert haben, um der hohen Komplexität von Organisationen im Sozialbereich gerecht zu werden.

Der klassische Managementkreis umfasst die Steuerung von Kernprozessen in Organisationen. Der Fokus liegt dabei auf der Strukturierung organisatorischer Rollen und deren Aufgaben.

Folgende Prozessschritte sind integraler Bestandteil des klassischen Managementkreises:

  • Planung: Organisationen entwerfen Organisationsziele und definieren, wie sie diese ausgestalten wollen.
  • Organisation: Dafür werden die nötigen Organisations- und Aufgabeneinheiten geschaffen und deren Kompetenzen definiert.
  • Personaleinsatz: Die Organisations- und Aufgabeneinheiten werden mit Personal besetzt, das über die nötigen Kompetenzen verfügt.
  • Führung: Die Führung stellt sicher, dass das Personal zielgerichtet handeln kann und trifft die entsprechenden Massnahmen.
  • Kontrolle: Schlussendlich wird Bilanz gezogen und überprüft, ob die Ergebnisse den gesetzten Zielen entsprechen. Abweichungen werden überprüft und Korrekturmassnahmen eingeleitet. Dieser Soll-Ist-Abgleich kann in allen Prozessschritten geschehen und führt dazu, dass der Managementkreis nie beendet ist.

In den Prozessschritten nicht zu vergessen ist der Mensch. Mitarbeitende und Führungskräfte einer Organisation (in der Grafik im Zentrum angesiedelt) sind als Menschen in verschiedenen Rollen und mit teilweise divergierenden Bedürfnissen und Ansprüchen involviert, wodurch das Persönliche und das Zwischenmenschliche an Bedeutung gewinnt. 

Um den Managementkreis an Organisationen im Sozialbereich anzupassen, haben wir ihn mit den Einflussfaktoren «Soziales Problem», «Klient*innen» und «Rahmenbedingungen» ergänzt.

  • Soziales Problem: Existenzgrundlage der Organisationen bilden soziale Probleme und deren Beseitigung entspricht dem Zweck der Organisation.
  • Klient*innen: Sie sind Träger*innen sozialer Probleme und haben einen erheblichen Einfluss auf den erlebten Arbeitsalltag von Arbeitnehmer*innen.
  • Rahmenbedingungen: Nicht zuletzt spielen politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Vorgaben wie zum Beispiel Leistungsverträge zwischen Behörden und Organisationen eine wichtige Rolle. Sie prägen die Organisationen auf allen Ebenen und in allen Prozessschritten.

Die Prozessschritte des erweiterten Managementkreises sind als Puzzleteile zu verstehen, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen und den Praxisalltag von Arbeitnehmenden im Sozialwesen bilden. Fehlen Teile oder haben sie die falsche Form, entsteht kein stimmiges Gesamtbild – der Praxisalltag wird als problematisch empfunden, woraus Gründe für den Wunsch nach einem Stellenwechsel entstehen.

Ergebnisse der Onlineumfrage

Störungen können laut unserer Umfrage in allen Prozessschritten des erweiterten Managementkreises auftreten. Das zeigt sich in der Vielfalt der Umfragedaten, die wir zusammengefasst den Prozessschritten zuordnen:

Planung: Als Gründe für einen Stellenwechsel werden betreffend die Planung angegeben, dass das Angebot der Organisation nicht dem Bedarf der Klient*innen entspricht, der Fokus auf den Unternehmensfinanzen und nicht auf den sozialen Problemlagen der Klient*innen liegt, und dass es viele Umstrukturierungen gibt.

Organisation: Im Bereich der Organisation werden zu wenig personelle Ressourcen (zu geringer Betreuungsschlüssel, zu hohe Fallbelastung), komplizierte administrative Abläufe oder monotone und repetitive Aufgaben erwähnt, bei denen nichts Neues gelernt wird oder die fachlich nicht anspruchsvoll sind. Zudem wird die Infrastruktur bemängelt (keine Einzelbüros, fehlende Rückzugsorte zur Erholung). Ebenfalls kritisiert werden das Arbeitsklima, fehlendes Vertrauen in die Kompetenzen von Mitarbeiter*innen, mangelnde Bereitschaft zur Weiterentwicklung, oder dass Hinweise auf Probleme nicht ernst genommen werden. Im Zusammenhang mit letzterem werden als Gründe für einen Stellenwechsel auch alte Vereins- und Organisationsstrukturen, lange Entscheidungswege und starre Hierarchien angegeben, die Innovation verunmöglichen.

Personaleinsatz: Unter den Gründen, die wir dem Personaleinsatz zuordnen, werden tiefe Löhne im Sozialwesen, mangelnde berufliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten (in Bezug auf Weiterbildungen, Aufstiegsmöglichkeiten in eine Führungsposition) und die Arbeitszeiten erwähnt. Lange und unregelmässige Arbeitszeiten, je nach dem mit Nachtwache, Pikettdiensten oder geteilten Diensten, wirken sich auf die Mitarbeitenden belastend aus – nicht zuletzt im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Führung: Bezüglich der Führung erwähnen Mitarbeitende fehlende Fach-, Führungs- und Sozialkompetenzen seitens der Führungspersonen sowie geringe Wertschätzung durch Vorgesetzte als Motivatoren für einen Stellenwechsel. Mitarbeiter*innen scheint es wichtig zu sein, dass Führungskräfte über Fachwissen der Sozialen Arbeit verfügen und sie somit in fachlichen Fragen unterstützen können. Weiter werden fehlende Transparenz, nicht zielführende Kommunikation oder ständige Eingriffe in die Arbeitsweise als Anstoss für einen Stellenwechsel angegeben. Als Gründe, die sich eher auf das Team beziehen, werden unqualifiziertes Fachpersonal, unkritische Teams, die Teamkonstellation und Teamkonflikte angegeben. Als weiterer Motivator für einen Stellenwechsel wird hohe Fluktuation in der Organisation erwähnt. Der Abgang von Arbeitskolleg*innen kann also eine Sogwirkung entwickeln und dazu führen, dass auch weitere Mitarbeitende die Stelle wechseln.

Kontrolle: Unzureichendes Qualitätsmanagement, Inkongruenz in Leitbild und gelebter Kultur, Angebote, die nicht den Bedürfnissen der Klientel entsprechen, dass der Wert des Menschen nicht im Mittelpunkt steht, und der Wunsch nach mehr Mitwirkungsmöglichkeiten sind Gründe, die wir unter «Kontrolle» zusammenfassen. Mitarbeitende ziehen Bilanz ihrer Arbeit und stellen sich die Frage, wie sinnvoll ihre Tätigkeit in Bezug auf den Zweck ist.

Mitarbeitende und Fachpersonen: Hier werden hohe emotionale, psychische und physische Belastungen wie Erschöpfung und Frustration erwähnt. Wir gehen davon aus, dass solche Belastungszustände ihre Auslöser auf allen Ebenen des erweiterten Managementkreises haben können. Da es um das persönliche emotionale Befinden von Menschen in einer Organisation geht, ordnen wir diese Gründe dem Faktor «Mitarbeitende und Vorgesetzte» zu. Genannte Gründe, auf die Organisationen weniger Einfluss haben, sind persönliche Präferenzen, wie der Wunsch nach einer neuen Herausforderung, ein zu langer Arbeitsweg, ein Wohnortswechsel oder der Wunsch nach einem neuen Arbeitsfeld.

Klient*innen: Sie spielen beim Wunsch nach einem Stellenwechsel eine untergeordnete Rolle. Nur vereinzelt wurde der Wunsch geäussert, weniger oder keinen direkten Klient*innenkontakt mehr zu haben.

Rahmenbedingungen: Wichtiger sind hingegen Rahmenbedingungen. Genannt wurden etwa Fusionen von Organisationen, ein Mangel an Austausch und Vernetzung mit anderen kleineren stationären Organisationen, die als «Mikrokosmos» beschrieben werden, oder fehlende Supervision. Genannte Gründe, die dem Sozialbereich immanent sind, sind Personalmangel, fehlende Ressourcen oder Spannungsfelder der teils divergierenden Ansprüche von Klient*innen, Staat und der eigenen Fachlichkeit (Tripelmandat). Letzteres wird als «nervenaufreibend» beschrieben. Es gibt aber auch politische Einflussfaktoren wie Sparmassnahmen im Sozialwesen, hoher Leistungsdruck, unzureichende Konzepte im Kindesschutz oder kantonale Vorgaben, die eine Auftragserfüllung verunmöglichen würden.

Arbeitgebende müssen reagieren

Häufig geben die Teilnehmenden unserer Umfrage nicht nur einen, sondern mehrere Gründe an. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren führt letztendlich dazu, dass sich eine Person dazu entscheidet, die Stelle zu wechseln. Vielfältige und rasch wechselnde Veränderungen in der Gesellschaft erhöhen die Komplexität im Sozialwesen. Damit geht ein Wandel der Bedürfnisse und Anforderungen von Arbeitnehmer*innen einher. Diese Veränderungen verlangen flexible und dynamische Organisationsstrukturen und Rahmenbedingungen. Darauf müssen Arbeitgebende reagieren. Den Fragen, was Organisationen im Sozialwesen tun können, damit Mitarbeitende länger bleiben, und was dazu führt, dass sie sich an einem Arbeitsplatz wohl fühlen, gehen wir im weiteren Verlauf des Projekts nach.

Zum Schluss möchten wir uns bei allen Teilnehmer*innen der Online-Umfrage herzlich bedanken: Mit Ihrer Offenheit und der Bereitschaft, Ihre Meinung zu teilen, haben Sie einen wichtigen Beitrag zum Forschungsprojekt für einen nachhaltigeren Arbeitsmarkt im Sozialwesen geleistet.

SARAH HUBER

Studentin Soziale Arbeit an der Berner Fachhochschule. Sarah absolviert im Rahmen des Studiums aktuell ein Praktikum bei sozialinfo.ch und widmet sich dabei u.a. Fragen rund um den Arbeitsmarkt im Sozialwesen.

Zusätzlich ist sie zusammen mit Gianni D’Agostino zuständig für den Kundensupport und das Sekretariat bei sozialinfo.ch.

Kontakt: sarah.huber@sozialinfo.ch 

MATTHIAS GIGER

Master in Sozialer Arbeit FHNW. Wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Seine Schwerpunkte sind der Arbeitsmarkt des Sozialwesens und neue Formen der Zusammenarbeit.

Nebenbei ist er Assistent der Redaktion der Schweizerischen Zeitschrift für Soziale Arbeit und Leiter der Geschäftsstelle der Schweizerischen Gesellschaft für Soziale Arbeit. 

Kontakt: matthias.giger@fhnw.ch

1 Vgl. Braun-Dubler, Nils/Schenker, Michèle/Wieser, Fabio (2016). Fachkräfte- und Bildungsbedarf für soziale Berufe in ausgewählten Arbeitsfeldern des Sozialbereichs. Olten: savoirsocial, sowie: Kägi, Wolfram/Kaiser, Boris/Lobsinger, Michael/Knecht, Donat (2016). Beschäftigung und Produktivität im Sozialbereich. Forschungsbericht Nr. 16/16. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen

2 In Anlehnung an Schreyögg, Georg & Koch, Jochen. (2020). Management. Grundlagen der Unternehmensführung (8., vollst. überarb. Auflage). Wiesbaden: Springer Fachmedien GmbH.


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