Digitalisierung Fokusartikel

Through2gether – Wie hat sich der Sozialbereich seit der COVID-19-Pandemie digital entwickelt?

Mai 2023

Für viele Organisationen im Sozialbereich stellte sich schon in einer sehr frühen Phase der Covid-19-Pandemie (ab März 2020) die Frage, wie der Betrieb aufrechterhalten werden kann. Alles musste irgendwie funktionieren, der Kernauftrag musste weiterhin erfüllt und die Führung auf Distanz irgendwie umgesetzt werden. Das Kooperationsprojekt Through2gether von sozialinfo.ch und der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW erforscht die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf digitale Entwicklungen im Sozialbereich.

Das Forschungsvorgehen

Im Forschungsprojekt trough2gether stellte sich damals die Frage, welche Veränderungen im Sozialbereich aufgrund des Lockdowns überhaupt stattgefunden haben, wie sich die sozialen Organisationen geholfen und digital aufgerüstet haben und wie die Lockdownphase erlebt wurde. An einer ersten Befragung im Juni 2020 haben 864 Personen aus der Deutschschweiz teilgenommen und uns Antworten auf diese Fragen geliefert. Dabei hat sich gezeigt, dass sich der Sozialbereich nicht grundsätzlich von anderen Wirtschafts- oder Verwaltungsbereichen unterscheidet. Jedoch wurde die Heterogenität des Sozialbereiches deutlich sichtbar. Es gab klare Unterschiede zwischen ambulanten und stationären Angeboten. Während die stationären nach Möglichkeit ihre Angebote aufrechterhalten mussten, suchten die ambulanten Angebote entweder neue Kommunikationsstrukturen oder mussten Angebote schliessen.

Im September 2021 konnte eine zweite Befragungswelle durchgeführt werden. Es nahmen wiederum 791 Personen teil, diese haben jedoch teilweise an der ersten Befragung noch nicht teilgenommen. Insgesamt haben 247 Personen beide Befragungen ausgefüllt. Im Hauptfokus der zweiten Befragung stand die Nachhaltigkeit der digitalen Entwicklungen. Konkret interessierte, ob die neuen, durch die Pandemie geschaffenen digitalen Formen der Zusammenarbeit und des Kontaktes mit Klient*innen auch nach dem Lockdown beibehalten wurden. Heute, zum Zeitpunkt der Endemie, stellen sich Fragen mit Blick auf das Home Office, der guten Führung auf Distanz, neuer Organisationsformen, der Qualität von Meetings in verschiedenen Settings und natürlich nach gemischten Formaten mit Zusammenarbeit vor Ort und digitalen Kontakten.

Im Folgenden werden die Umfrageergebnisse der Befragung vom September 2021 vorgestellt und punktuell mit den Ergebnissen vom Juni 2020 verglichen. Die 247 Personen, welche den Fragebogen zu beiden Zeitpunkten ausgefüllt haben, ermöglichen einen Vergleich der Entwicklungen über die Zeit hinweg. Auf Basis der Anzahl Befragungsteilnehmender lassen sich jedoch keine generellen Rückschlüsse auf sämtliche im Sozialbereich tätigen Personen ziehen, da diese Anzahl für die Repräsentativität zu gering ist.

Digitale Entwicklungen im Sozialbereich haben stattgefunden

Bei beiden Befragungen konnten die Personen angeben, wie sie die digitale Entwicklung ihrer Organisation auf einer Skala von 1-10 einschätzen. Bei der ersten Befragung war die Frage unterteilt in Entwicklungsstand vor der Pandemie und Entwicklungsstand aktuell (Juni 2020). Es hat sich gezeigt, dass während den ersten Monaten der Pandemie ein signifikanter Entwicklungsschub stattgefunden hat. Der Mittelwert bei den Befragten lag um 0.41 Punkte höher als vor der Pandemie. Die Entwicklungen haben sich, wenn auch stark verlangsamt, auch nach der ersten Befragung fortgesetzt. Folgende Grafik zeigt die Differenz der Einschätzungen im Juni 2020 und Oktober 2021. 

Bei der zweiten Befragung schätzten die Personen die digitale Entwicklung im Mittel um 0.18 Punkte höher ein als bei der ersten Befragung. Dieser Zuwachs ist wesentlich geringer als in den ersten Monaten der Pandemie. Es zeigt sich generell, dass die angegebene Entwicklung auch negative Werte aufweisen kann (eine Abnahme der Entwicklung zwischen den beiden Zeitpunkten). Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass Probleme mit der digitalen Infrastruktur und/oder dem digitalen Reifegrad der Mitarbeitenden zu entsprechenden Problemen bei der Sicherung der Tagesgeschäfte geführt haben. Möglicherweise schätzen sich die Befragten auch vergleichend mit anderen Organisationen ein. Wenn andere wesentlich grössere Entwicklungen durchgemacht haben, so wird dies für die eigene Organisation als Rückschritt gesehen.

Entwicklungen bleiben ungleich verteilt

Betrachtet man die Ergebnisse vergleichend zwischen dem stationären und dem ambulanten Bereich, so bestehen einige Auffälligkeiten: Der ambulante Bereich hat sich während der ersten Pandemiephase deutlich stärker entwickelt. Dies ist vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass der stationäre Bereich sein Tagesgeschäft vor Ort weitergeführt hat, während ambulante Angebote auf digitale Arbeitsstrukturen umstellen mussten.

Zwischen der ersten und zweiten Befragung hat sich der ambulante Bereich nochmals leicht entwickelt (+0.20 Punkte), während der stationäre Bereich nahezu stagniert hat (-0.01 Punkte). Die Entwicklungen haben somit sehr früh in der Pandemie stattgefunden. Nach der ersten Befragungswelle sind nur noch geringfügige Entwicklungen zu beobachten (und diese wiederum nur im ambulanten Bereich).

Dasselbe Bild zeigt sich bei der Unterscheidung zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Einrichtungen. Öffentlich-rechtliche zeigen wesentlich grössere digitale Entwicklungen. Dies ist jedoch im Wesentlichen daher zu erklären, dass Private eher stationäre Angebote bereitstellen.

Leitungen der Organisationen als Innovationstreiber

Im Forschungsprojekt wurde auch die Frage gestellt, wer Entwicklungen in Organisationen anstösst respektive dann auch vorantreibt. Die Pandemie bietet hier ein interessantes Feld, da eine Adaption an die Ausnahmesituation und deren stetiger Veränderung für die meisten Organisationen zwingend notwendig war. In jeder Phase waren Geschäftsleitungen wichtig, da sie über zwei Formen von Kompetenzen verfügen können. Zum einen können dies fachliche Kompetenzen im Bereich von digitalen Entwicklungen sein, zum anderen sind dies sicher Entscheidungskompetenzen. Diese beiden Kompetenzbereiche lassen sich nicht trennscharf differenzieren. Zu Beginn der Pandemie waren 54% der Befragten der Meinung, dass die Geschäftsleitung der wichtigste Entwicklungstreiber sei. Mitarbeitende wurden seltener erwähnt und externe Faktoren wie gesetzliche Grundlagen, die Bedürfnisse der Klient*innen oder Auftraggebende wurden kaum genannt. Das ist interessant, wenn man bedenkt, dass der erste Lockdown ein schnelles Reagieren und eine klare Steuerung verlangt hat.

Bei der zweiten Befragung wurden die Geschäftsleitungen nicht mehr so häufig erwähnt. Mit der Anpassung an die Situation haben die Mitarbeitenden möglicherweise wieder vermehrt ihren Spielraum wahrgenommen oder ihn sogar eingefordert.

Betrachtet man die Veränderungen der beiden Zeitpunkte nach dem ersten Lockdown und im Oktober 2021, so sind deutliche Veränderung bei den Auflagen durch die Auftraggebenden sowie äussere Umstände (z.B. rechtliche Vorgaben) zu erkennen. Diese erhalten im Oktober 2021 eine wesentlich höhere Relevanz als zuvor.

Entwicklungen in Richtung einer Normalisierung

Die Pandemie hat sich während der ersten Monate stark auf den Arbeitsalltag vieler Arbeitnehmenden ausgewirkt.

Die Befragten konnten bei beiden Befragungswellen auf einer Skala von 1-10 Angaben dazu machen, wie sehr sie von bestimmten Veränderungen (wie z.B. der Schliessung von Angeboten) betroffen waren. Folgende Grafik zeigt die Differenz der Befragten zwischen der ersten und der zweiten Befragung. Negative Werte in der Grafik zeigen an, dass die Veränderungen bei der zweiten Befragung weniger relevant (tiefere Einschätzung) waren als bei der ersten Befragung.

Nahezu alle Werte zeigen an, dass die (negativen) Einschätzungen durch die Pandemie bei der zweiten Befragung weniger gross waren als bei der ersten. So hat sich beispielsweise die Kommunikation im Team wieder stark normalisiert, wobei neue Kommunikationsformen beibehalten oder ausgebaut wurden. Die temporäre Schliessung von Angeboten und die Unmöglichkeit von Face-to-Face-Kontakten mit Klient*innen war bei der zweiten Befragung ein geringeres Problem. Die digitale Entwicklung wurde bei der zweiten Befragung positiver eingeschätzt als früher und auch die finanziellen Konsequenzen für die Organisationen wurden als weniger einschneidend angesehen.

Einige Befunde deuten darauf hin, dass Angebote im Oktober 2021 wieder wie vor der Pandemie durchgeführt werden konnten. Möglicherweise deutet diese Normalisierung aber auch darauf hin, dass neue Formen des Kontaktes bereits zur Normalität geworden sind.

Neugier für digitale Entwicklungen und Eigenverantwortung bei der Anwendung sind bei vielen vorhanden

Neue digitale Möglichkeiten können die Neugier wecken, Ängste auslösen oder die Eigenverantwortung fördern. Bei der zweiten Befragung wurden zusätzlich persönliche Einschätzungen zu diesen Themenfeldern erhoben. Die Befragten schätzten sich jeweils auf einer Skala von 1 bis 5 ein. Folgende Grafik zeigt die Mittelwerte der Einschätzungen.

Die blauen Balken stellen die Dimension «Ängste» dar. Bei den Befragten sind kaum Ängste vorhanden. Sie gehen davon aus, dass sie mit neuen technischen Hilfsmitteln gut umgehen und diese adäquat anwenden können.

Bei den roten Balken werden Aspekte von «Neugier» thematisiert. Die meisten Fragen wurden mit Mittelwerten über der Mitte der Skala (=3) beantwortet. Vor allem die Neugier und auch die Freude an neuen technischen Hilfsmitteln scheinen gross zu sein. Möglicherweise haben diese den Arbeitsalltag während der Pandemie auch erleichtert (z.B. vermindertes Reisen für Sitzungen). Viele Befragte möchten jedoch als Ausgleich zur digitalen Welt auch weiterhin analog tätig sein. So wurde der Aussage «ich würde häufiger technische Produkte nutzen» nur teilweise zugestimmt.

Die Eigenverantwortung (grüne Balken) wird bei vielen gross geschrieben. Das Wissen zum Umgang mit der Technik muss sich jede Person selbständig erarbeiten. Während der Zeit im Home-Office konnte selten einfach technisches Personal gerufen werden, welches Applikationen installiert oder Geräte repariert hat. Dies führte möglicherweise zu grösserer digitaler Selbständigkeit.

Es wurde auch untersucht, ob die persönlichen Einschätzungen zu Neugier und Eigenverantwortung in einem Zusammenhang mit den vermuteten Entwicklungen der Organisationen standen. Dies ist jedoch einzig bei der Aussage "Ob ich erfolgreich in der Anwendung moderner Technik bin, hängt im Wesentlichen von mir ab" der Fall. Bei allen anderen Aussagen gab es keinen statistischen Zusammenhang. Dies deutet darauf hin, dass bei der Einschätzung des Entwicklungsstandes in der Organisation die persönlichen Kompetenzen kaum Einfluss haben.

Dritte Erhebung zur Studie

Die digitalen Entwicklungen im Sozialbereich werden im Rahmen einer dritten Erhebung weiter analysiert. Die Resultate sollen aufzeigen, ob eine neue Normalität eingetreten ist und wie sich diese von der alten Normalität unterscheidet.

Die Erhebung findet im Juni 2023 statt und wir suchen weitere Teilnehmende. Möchten Sie an der Studie teilnehmen? Dann freuen wir uns über eine Mail von Ihnen an Roger Kirchhofer. Sie werden anschliessend den Zugangslink erhalten.

Fazit

Die Covid-19-Pandemie hat zu einschneidenden Veränderung im Sozialbereich geführt. Viele Organisationen konnten rasch auf die neuen Herausforderungen reagieren. Die notwendigen Angebote im Sozialbereich konnten unter den neuen Bedingungen weitergeführt werden. Weiterführende Entwicklungsschritte wurden jedoch höchstens ansatzweise eingeleitet.

Viele Organisationen sahen die Anpassung als Zwischen- und nicht als Übergangsphase. Erfreulicherweise haben sich die Bedingungen in der Zwischenzeit wieder geändert. Dies zeigt sich vor allem darin, dass viele Dienstleistungen wieder wie vor der Pandemie angeboten werden können. Es haben jedoch kaum Evaluationen der Entwicklungsschritte während der Pandemie stattgefunden. Die Analyse der neuen Arbeitsformen und der neuen Formen von Klient*innenkontakt hätten jedoch wichtige Erkenntnisse für die Zukunft gebracht. Die Befragung zeigt auch auf, dass die Ansprüche von Dienstleistungsnutzer*innen im Sozialbereich wenig bekannt sind und diese selten in die Gestaltung neuer Angebote einfliessen.

Eine dritte Befragung (siehe nebenstehende Box) soll aufzeigen, wie sich die Angebote seit der Befragung im Herbst 2021 weiterverändert haben und welche möglichen Chancen für den Sozialbereich daraus entstehen.


Autor*innen

ROGER KIRCHHOFER

Lic. phil. Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten

T: +41 62 957 20 83
roger.kirchhofer@fhnw.ch

SARAH BESTGEN

MA in Social Sciences, Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten

T: +41 62 957 21 01
sarah.bestgen@fhnw.ch

CHRISTINE MÜHLEBACH

MSc Soziale Arbeit, Produktmanagerin Digitalisierung beim Verein sozialinfo.ch, Bern

T: +41 78 404 75 32
christine.muehlebach@sozialinfo.ch


Zurück zur Übersicht