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Gesucht: Männer für soziale Berufe

Januar 2022

Geschlechterstereotypen haben bei der Berufswahl nach wie vor einen grossen Einfluss. Diese tragen dazu bei, dass Männer im Sozialbereich deutlich untervertreten sind. Die Kampagne «Männer in soziale Berufe» will Gegensteuer geben.

Obwohl der Sozialbereich auch für Männer attraktive Berufsmöglichkeiten bereithält, ist das Geschlechterverhältnis nach wie vor unausgeglichen; der Frauenanteil ist deutlich höher. So waren etwa von den Studienanfänger*innen im Jahr 2020 nur rund ein Viertel Männer. Abgesehen von Berufen mit technischem Bezug, wie etwa beim sozialpädagogischen Werkstattleiter, sind die Männerquoten praktisch in allen Bereichen unterdurchschnittlich.

Eine aktuelle Kampagne will Männer gezielt ansprechen und aufzeigen, dass der Sozialbereich auch für Männer viel zu bieten hat, gerade auch für solche, die sich für ein modernes Rollenverständnis engagieren.

Wir haben mit Lu Decurtins, Verantwortlicher der Kampagne «Männer in soziale Berufe», über das Projekt und über die Haltungen dahinter gesprochen.

 

LU DECURTINS

  • Sozialpädagoge und Supervisor 
  • Regelmässige Projekte im Geschlechterbereich (z. B. JUMPPS - Jungen- und Mädchenpädagogik und Projekte an Schulen)
  • Engagiert bei männer.ch 
  • Verantwortlicher der Kampagne «Männer in soziale Berufe»

Sozialinfo.ch/Martin Heiniger: Was ist der Hintergrund der Kampagne; wie ist sie zustande gekommen?

Lu Decurtins: Ich war davor an einem Projekt in Zusammenarbeit mit männer.ch und kibesuisse beteiligt, bei dem es darum ging, mehr Männer in die Kinderbetreuung zu bringen. Wir kriegten im Verlaufe des Projektes immer wieder die Anregung, ein solches Projekt für Sozialberufe allgemein zu machen, und entschieden dann, das anzugehen. Um das Projekt breiter abzustützen, sind SASSA und SPAS in der Trägerschaft und wir arbeiten mit Savoirsocial zusammen.
Das Ziel ist dabei nicht, den Männeranteil beliebig zu vergrössern, sondern vielmehr eine fruchtbare Geschlechterbalance mit qualifizierten Fachpersonen hinzubekommen. Das ist auch von der Basis her ein Bedürfnis.

Weshalb jetzt? Gibt es einen aktuellen zeitlichen Aufhänger?

Es hat sich einfach so ergeben. Jetzt mit Corona ist alles schwieriger, diesen Zeitpunkt hätte man wohl nicht so gewählt. Gleichstellungsarbeit auf Männerseite ist ja leider immer ein Randthema. Es ist vordergründig nicht so wahnsinnig attraktiv, mehr Männer in Care-Berufe zu bringen, Männer dazu zu bringen, Hausarbeit zu machen oder Macht abzugeben. Deshalb findet man auch kaum Geldgeber dafür. Gleichzeitig sind Themen wie Chancengerechtigkeit für Mädchen und Jungen, Gleichstellung, oder auch die sogenannte toxische Männlichkeit sehr aktuell. Die klassische Rollenteilung in der Familie und auch im Berufsleben ist ja nach wie vor vorherrschend. Da gibt es auch einigen Handlungsbedarf auf Männerseite.

Weshalb sollen denn Männer in sozialen Berufen arbeiten?

Einerseits sind es attraktive Berufsmöglichkeiten, wo man sich selbst verwirklichen kann, in denen man auch Teilzeit arbeiten und für die Familie da sein kann. So ist die Kampagne ja auch aufgebaut. Man muss kein Nicht-Mann sein, aber ein moderner Mann, und für einen solchen ist es ein spannender Job.
Andererseits geht es auch um gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Das sieht man ja aktuell in den Pflegeberufen, das sind vor allem Frauen, die jetzt an die Säcke müssen. Es kann ja nicht sein, dass Frauen all diese Arbeit machen, bei der sie dann noch weniger verdienen. Von einer grösseren Balance könnten letztlich auch Männer profitieren.
 

Man muss kein Nicht-Mann sein, aber ein moderner Mann, und für einen solchen ist es ein spannender Job.

Lu Decurtins

Wieso braucht es diese Kampagne, um Männer für soziale Berufe zu interessieren?

Oft werden junge Männer, die in einem sozialen Beruf Erfüllung finden würden, bereits bei der Berufswahl auf andere Schienen geleitet. Manche erkennen erst viel später, dass ihnen das was bringen könnte. So erleben sie beispielsweise in einem Zivildiensteinsatz, dass sie nicht nur über die Leistung, sondern als Mensch Wertschätzung kriegen. Da kommen sie in eine Schule oder ein Heim und merken plötzlich, das ist ganz eine andere Welt. Mädchen dagegen werden eher in diese Berufsausrichtung hinein sozialisiert, dadurch dass sie Dinge tun, die auf die Beziehungsebene ausgerichtet sind, Babysitten etwa oder allgemein auf Beziehungsebene Verantwortung übernehmen. Viele Männer erleben das anders, für sie ist es ein bewussterer Schritt, sich für einen solchen Beruf zu entscheiden.

Ihr habt den Slogan «Soziale Berufe sind auch Männerberufe» kreiert - was zeichnet einen Männerberuf aus?

Ein Beruf, in dem ein Mann tätig sein kann. Berufe haben grundsätzlich kein Geschlecht. Ein Beruf sollte eine Eignung voraussetzen. Natürlich gibt es gewisse Grenzen: Es gibt einerseits z.B. kaum männliche Hebammen, und es gibt andererseits schwere körperliche Arbeiten, für die sich nur wenige Frauen eignen, aber auch solche Berufe sollten grundsätzlich offen sein. Und ich bin überzeugt davon, dass es keine Qualitätseinbusse bedeutet, wenn mehr Männer im Sozialbereich arbeiten. Es gibt genug geeignete Männer, die das ebenso gut machen können wie Frauen. Also sind es auch Männerberufe.

Was hat der Sozialbereich davon, wenn mehr Männer da arbeiten?

Man arbeitet ja mit Menschen, und da gibt es verschiedene Geschlechter, die wollen auch unterschiedlich angesprochen werden wollen. Da kann ich mehr Wissen generieren in einem gemischten Team, weil wir Männer anders sozialisiert worden sind. Dann gibt es auch Situationen, wo Frauen von Frauen betreut werden wollen und Männer von Männern, weil es etwa empfindliche Bereiche sind, oder es um traumatische Erfahrungen geht. Und dann gibt es die Vorbildrolle, Vaterersatz etwa, gerade bei Kindern und Jugendlichen. Da ist es wichtig, dass Männer auch präsent sind, und zwar nicht einfach um Fussball zu spielen, sondern vielleicht auch, um alternative Rollenbilder vorzuleben. D.h. wenn beispielsweise ein Mann mit Puppen spielt, traut sich ein Junge eher, das auch zu machen. Es geht uns nicht darum, die Rollenklischees dann einfach weiterzuführen, also dass die Männer tschutten und wilde Sachen machen, sondern im Gegenteil, wir sollten die Vielfalt öffnen. Und je mehr Männer da sind, desto weniger werden sie in diese Rollen gedrängt. Wir hören oft von Männern, dass sie das gar nicht alles erfüllen wollen, was man vom einzigen Mann in einem Frauenteam erwartet.

Es geht uns nicht darum, die Rollenklischees dann einfach weiterzuführen.

Lu Decurtins

Dass Männer dann einfach die Leitungspositionen besetzen, wäre aber wohl nicht im Sinne dieser Kampagne?

Gar nicht, aber es ist natürlich eine Gefahr und es ist auch ein Kritikpunkt an der Kampagne. Männer verdienen immer noch mehr für die gleiche Arbeit, auch im Sozialbereich, und sie haben tendenziell höhere Positionen. Das ist durchaus eine Problematik, die man thematisieren muss. Ich finde aber nicht, dass man deswegen den Anteil der Männer nicht erhöhen sollte. Es wäre eher anzustreben, dass sich Frauen etwas mehr zutrauen und Verantwortung in einer Leitungsposition übernehmen können. Das würde bedeuten, Frauen zu ermutigen und zu ermächtigen und Stellen zu schaffen, die familienkompatibel sind. Und umgekehrt aber auch, den Druck vom Mann zu nehmen, immer aufsteigen zu müssen. Ich kenne Sozialpädagogen, die sagen, ich will einfach 50% in einem Team arbeiten, weil ich gern geführt werde, und eine Familie habe. Ich will gar nicht aufsteigen, sondern habe meine Erfüllung im Kontakt zu den Menschen, den ich durch den Aufstieg verlieren würde.

Wie wirkt sich ein grösserer Männeranteil auf die Frauen aus, die im sozialen Bereich tätig sind?

Eine kritische Frage könnte sein, ob man den Frauen etwas wegnimmt, wenn man das anders aufteilt. Zu klären wäre hier etwa, wann ein Mann in die Leitungsposition können soll. Eine andere Befürchtung könnte sein, dass die Männer dann einen Bonus in einem Frauenbereich kriegen und dort sozusagen auch noch die Herrschaft übernehmen. Diese Befürchtung teile ich durchaus, und ich denke, wir sollten in eine Auseinandersetzung gehen. Aber ich finde, das sind keine unlösbaren Probleme. Viel wichtiger finde ich, dass von den genannten Vorteilen wie etwa zusätzlichem Wissen und grösserer Rollenvielfalt auch die Frauen profitieren.

Apropos Rollenvielfalt: Braucht es Männlichkeit in sozialen Berufen, und wenn ja, welcher Art?

Ich finde, es ist in vielen Bereichen wichtig, dass Männer als Vorbilder hinstehen und klar Stellung beziehen. Beispielsweise ist es in der Jugendarbeit wichtig, dass das Ausgangsverhalten der Jugendlichen thematisiert wird. Also, ist es in Ordnung, wenn Jungs Mädchen betatschen, oder nicht. Das ist ein Beispiel, wo achtsame Männer viel Positives bewirken unterstützen können. Hinter der Kampagne steht die Haltung, dass man auch im Sozialbereich nicht einfach ein Anti-Mann sein muss. Ich kann mich als «richtiger» Mann da drin bewegen, und muss nicht die männlich konnotierten Eigenschaften draussen lassen. Es ist ok, wenn ich auch mal aggressiv reagiere, aber gleichzeitig kann ich eben auch andere Seiten zeigen und einfühlsam sein. In der Kampagne wollten wir die Männer so inszenieren, dass beides bei der Zielgruppe ankommt: Dass sie einerseits noch ein wenig das herkömmliche Rollenbild ausstrahlen, und gleichzeitig aber auch Empathie und Zuwendung im Blick zeigen.

Ich kann mich als «richtiger» Mann da drin bewegen, und muss nicht die männlich konnotierten Eigenschaften draussen lassen.

Lu Decurtins

In der Sozialen Arbeit wird immer wieder ein Fachkräfte-Mangel konstatiert. War das ein Hintergedanke bei der Kampagne?

Ich finde, das ist leider viel zu wenig ein Thema. Wir brauchen auch in Zukunft fähige Fachpersonen im Sozialbereich. Leider „liefern“ die Fachhochschulen und höheren Fachschulen eher noch zu wenig Studierende und Ausgebildete an die Praxis. Wenn man annimmt, dass es gleichviele geeignete Männer wie geeignete Frauen gibt, dann wäre das Potenzial an geeigneten Personen viel grösser und der Fachkräftemangel in sozialen und Care-Berufen kein Thema mehr. Man müsste die Zielgruppe konsequent ansprechen. In der Industrie haben viele Firmen sehr wohl erkannt, dass Frauen für technische Berufe nicht weniger geeignet sind. Sie merken, dass es hier ein riesiges Potenzial gibt und bemühen sich darum, geeignete Mädchen für diese Berufe zu gewinnen.

Nach wie vor haben ja nicht alle in der Sozialen Arbeit Tätigen eine Ausbildung. Wie ist die Bedeutung dieses Aspektes aus Sicht der Kampagne?

Wenn man Alleinverdiener einer Familie ist, stellt sich natürlich schon die Frage, ob man es sich leisten kann, eine Ausbildung zu machen. Da sind berufsbegleitende Ausbildungen, die es zum Beispiel auch in der Sozialpädagogik gibt, attraktiv. Als Supervisor und Coach erlebe ich immer wieder positive Beispiele von SpiAs (Sozialpädagog*innen in Ausbildung) in Teams. In diesen berufsbegleitenden Ausbildungen hat es auch deutlich höhere Männeranteile. Ich finde es einfach wichtig, die verschiedenen Berufswege aufzuzeigen und möglichst einfach darzustellen, welche Möglichkeiten es auch für Quereinsteigende gibt. Es ist aber wichtig, dass man die geeigneten und interessierten Männer beim Stand abholen kann, wo sie sind und ihnen attraktive und spannende (Ausbildungs-)Wege anbieten kann. Jemand, der schon einen beruflichen Hintergrund aus einem anderen Bereich mitbringt, hat natürlich im Verhältnis zu den Mitstudierenden schon viel mehr im Rucksack und will anders gefordert werden. Diese Vielfalt wiederum kommt auch den interessierten Frauen zugute!
Die andere Diskussion ist die unterschiedliche Wertigkeit von Höheren Fachschulen und Fachhochschulen. Rein vom Abschluss her stehen die Fachhochschulen im Vergleich zu den Höheren Fachschulen besser da, was jedoch noch wenig über tatsächliche Kompetenzen und Qualifikationen für das jeweilige Berufsfeld aussagt. Die Frage ist ja letztlich, was es braucht, um die Anforderungen an der jeweiligen Stelle erfüllen zu können. Meines Erachtens ist die Integration der Theorie in die Berufspraxis schon während der Ausbildung ein zentraler Punkt.

Wenn man annimmt, dass es gleichviele geeignete Männer wie geeignete Frauen gibt, dann wäre das Potenzial an geeigneten Personen viel grösser.

Lu Decurtins

Was bräuchte es, um mögliche Quereinsteiger besser anzusprechen?

Es gibt Aspekte, die man meiner Ansicht nach aufwerten müsste, um ein heterogenes Feld an Studienabgängern für die Praxis zu generieren. Da gibt es schon Bemühungen, etwa um Vielfalt im Bereich der kulturellen Herkunft zu erreichen. Klar muss jemand Deutsch können, aber um die Zielgruppe zu erreichen, ist es unerlässlich, auch andere Kompetenzen anzuerkennen und zu gewichten, um so auch Personen mit Migrationshintergrund eine Chance zu geben. Grundsätzlich ist der soziale Bereich diesbezüglich auf gutem Wege. Ich kenne Beispiele, wo sich jemand nach einem niederschwelligen Einstieg stetig weiterentwickeln konnte. Da kann jemand mal diesen Abschluss machen und hat dann die Möglichkeit, in einen anderen Job reinzurutschen, wenn die notwendigen Skills da sind. Da erlebe ich eine rechte Offenheit, etwa in der offenen Jugendarbeit. Das sind aber berufspolitische Fragen, die über unsere Kampagne hinausgehen.

Habt ihr schon Reaktionen auf die Kampagne?

Für die Kampagne haben wir bis jetzt praktisch nur positive Feedbacks gekriegt, obwohl wir uns in einem Umfeld bewegen, wo genau und kritisch hingeschaut wird. Wir haben die Wirkung der Kampagne natürlich im Voraus mit den Zielgruppen überprüft. Dennoch hätte ich erwartet, dass unsere doch recht provokativ mit Bildern spielende Kampagne auch auf Widerstand stößt. Beeindruckend hat mich das Engagement der Botschafter. Es zeigten sich fast alle angefragten Männer bereit, für die Sache mit Namen und Inhalt hinzustehen. Ein durchaus berechtigter inhaltlicher Einwand war wie gesagt, dass wir erst für mehr Gleichstellung sorgen sollten, da mehr Männer auch bedeutet, mehr Männer in Leitungspositionen zu haben. Obwohl dieser Aspekt sicher zu berücksichtigen ist, sollten diese zwei Baustellen meiner Ansicht nach getrennt bearbeitet werden.
 


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